Rede von Grisha Alroi-Arloser vom 01. Juni 2015 anläßlich eines Festakts zu 50 Jahren Deutsch-Israelische diplomatische Beziehungen des Landtags und der Landesregierung Nordrhein-Westfalen im Düsseldorfer Landtag

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GrishaSehr geehrte Frau Landtagspräsidentin, sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, lieber Botschafter, werte Minister und Abgeordnete, meine Damen und Herren!

Ich kam in Sibirien zur Welt, bin in Nordrheinwestfalen aufgewachsen, zunächst in Köln, später in Bergisch Gladbach, und 1987-91 kam ich noch einmal ins Rheinland, als ich als Botschaftsrat für Arbeits- und Sozialwesen an der israelischen Botschaft in Bonn meinen diplomatischen Dienst antrat.

Die Familie meiner Mutter stammte seit Generationen aus Weilerswist. Sie selbst kam 1923 in Dortmund zur Welt. 1933 floh sie mit den Eltern in die falsche Richtung, saß ab 1944 13 Jahre in russischen Gefängnissen und Lagern und kehrte 1958 mit Mann und einem zweieinhalb jährigen, russischsprachigen Jungen nach Deutschland zurück, nach Köln – ihrer Jugend und Heimat beraubt. Ihre letzte Ruhestätte fand sie in Israel in der Nähe der Kinder und Enkel.

Mein Vater kam aus einem kleinen Stettl in Polen, Stanislavow, heute Ukraine. Er war der einzige Überlebende der Shoah seiner Familie, ihm gelang zwar die Flucht nach Osten, dann aber kamen 17 Jahre Gefängnis und Lagerhaft. Nach Deutschland wollte er nicht, aber so kam es halt. Er blieb bis zum Schluss ein Fremder hier. Er liegt auf dem jüdischen Friedhof in Köln begraben.

Und ich? Ich erinnere mich an meine vielen Begegnungen mit Johannes Rau, in Düsseldorf, in Wuppertal, in Berlin, Jerusalem und Tel Aviv. Ich habe ihn in Israel begleitet, so wie Wolfgang Clement und Bodo Hombach. Ich durfte hier in diesem Haus kurz nach dem Mauerfall eine erste SPD-Delegation aus Brandenburg unter Leitung des späteren Landtagspräsidenten Knoblich treffen, initiiert von unserer guten Freundin Ingeborg Friebe. In Köln lernte ich Kölsch und Hebräisch, ich habe hier noch gute Freunde und deshalb glaube ich, dass ich einen besonders scharfen Blick für das gewonnen habe, was sich zwischen Deutschland und Israel entwickelte. „Die Heimat wurde zur Fremde, aber die Fremde wurde nie zur Heimat“ beschreibt sehr treffend die mir gebliebene Distanz, und es ist diese Distanz, die eine Analyse erst möglich macht.

Vor wenigen Tagen schenkte mir ein Freund das Johannes Rau Portrait von Uwe Birnstein zum Geburtstag. Und darin steht folgendes Zitat:

„Für mich ist die besondere Verpflichtung der Deutschen gegenüber dem Staat Israel und seinen Menschen ein bindendes Anliegen. Ich werde mich in jedem Amt, das ich in meinem Leben haben werde, zu dieser besonderen Verpflichtung bekennen.“

Und weiter heißt es da: „Botschafter in Israel will ich werden!“ Willy Brandt schwieg kurz. Dann blickte er seinem nordrhein-westfälischen Genossen Johannes Rau in die Augen und sagte bestimmt: „Das geht nicht, das will Günther Grass auch!“ Wer hätte das gedacht…

Johannes Rau wusste damals, was bis heute gilt: Nazismus und der Zivilisationsbruch der Shoah gehören zu den ersten Assoziationen, die Israelis bei der Erwähnung Deutschlands haben. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob man nun selbst oder familiär vom Holocaust in Mitleidenschaft gezogen wurde, ob man europäischer oder orientalischer Abstammung ist, eher links oder rechts wählt, gebildet oder weniger gebildet, religiös oder säkular ist. Nur der Umgang mit der Assoziation unterscheidet sich graduell.

Dennoch kann festgestellt werden, dass es einen recht entspannten Umgang mit Deutschland gibt, nicht in Ermangelung erwähnten Assoziationsreflexes, sondern dessen ungeachtet.

Deutsche Besuchergruppen, die ich seit Beginn der 80er Jahre durch Israel geführt habe, waren von der Offenheit und Herzlichkeit überrascht, mit denen ihnen als Deutsche begegnet wurde. Häufig erst bei den Abschlussgesprächen eröffnete man mir, dass man befürchtet hatte, „als Deutscher angefeindet zu werden.“ Als es nicht dazu kam, war man erleichtert. Israelis nähern sich deutschen Besuchern oft unbeschwerter, als Holländer, Dänen oder Polen. Es hat sich so etwas wie Normalität eingestellt.

Junge Israelis besuchen in großen und wachsenden Zahlen Sprachschulen, um Deutsch zu lernen, weil sie sich beruflich etwas davon versprechen, in Deutschland studieren wollen, oder bereits Kontakte pflegen, die vertieft werden sollen.

Berlin ist wohl das beliebteste Reiseziel vieler Israelis und das Goethe-Institut wirbt auf israelischen Autobussen mit einem Bild vom Brandenburger Tor für Sprachkurse in der Stadt: „Kultur erleben – Sprache lernen – komm nach Berlin“. 25.000 Israelis heißt es, leben bereits in der Bundeshauptstadt.

Die Israelis glauben zu wissen, dass sie sich im Grunde auf Deutschland verlassen können, in fast jeder Hinsicht. Die Rolle Deutschlands bei der wirtschaftlichen Festigung des jüdischen Staates ist landläufig bekannt, kaum eine israelische Stadt unterhält keine Städtepartnerschaft zu mindestens einer Stadt in Deutschland, der Handel blüht. Deutsche Produkte erfreuen sich wachsender Beliebtheit und wenn es einigermaßen friedlich ist, gibt es einen regen Schüler-, Jugend-, Studenten- und Kulturaustausch. Seit 2008 finden gemeinsame Regierungskonsultationen statt, 2014 wurde ein Konsularabkommen vereinbart, nach dem sich israelische Staatsangehörige in Ländern, zu denen Israel keine diplomatischen Beziehungen unterhält, im Notfall an deutsche Auslandsvertretungen wenden können. Beide Länder führen gemeinsame Entwicklungsprojekte auf dem afrikanischen Kontinent aus und Deutschland vertritt noch am ehesten israelische Interessen in der EU. 50 Jahre nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen erweist sich die Formalisierung dieser Beziehungen als überaus gelungen.

Dennoch kann das F der Formalisierung nicht ohne weiteres gegen ein N der Normalisierung ausgetauscht werden. Israelis stellen sogar ab und an die Frage, ob nicht die verfrühte israelische Bereitschaft zur Formalisierung Tür und Tor für eine weit weniger wünschenswerte Normalisierung öffnete. Sie glauben nämlich, dass es im Grunde keine normalen zwischenstaatlichen Beziehungen geben könne, vor allem dann nicht, wenn Normalität das Ende der Einzigartigkeit dieser Beziehungen bedeutet.

Gerade die Schübe an Sympathieverlust, die Israel seit der deutschen Wiedervereinigung, nach dem Ausbruch der Intifada El-Aksa im September 2000, der Operation Gegossenes Blei Ende 2008, der Gaza-Flottille und dem Gaza-Krieg vor einem Jahr in der deutschen Öffentlichkeit erfahren hat, verunsichert die Israelis. Hatte Henryk Broder Recht mit seiner provokanten Formulierung: „Auschwitz werden uns die Deutschen nie verzeihen?“ Wie sonst sei es zu erklären, fragt man sich, dass gerade in Deutschland Israel mittlerweile als eines der unsympathischsten Länder gilt, dass Deutsche in Israel die größte Bedrohung für den Weltfrieden erkennen und Israel allein für den Konflikt im Nahen Osten verantwortlich machen. Wenn das Normalität bedeutet, dann will man sie auf keinen Fall.

Die große Ambivalenz, die die Sicht der Israelis auf Deutschland noch immer charakterisiert, kann nicht allein auf die deutsche Rolle im finstersten Kapitel jüdischer Geschichte begründet sein. Sie muss zu ähnlich großen Teilen vom Unbehagen der Erinnerung an die totale Macht- und Hilflosigkeit herrühren, denen Juden in der Shoah ausgeliefert waren, ein Bild, das zu einer der sinngebenden Koordinaten israelischen Raison d’Etres wurde und doch am liebsten aus dem nationalen Kollektivbewusstsein ausgeblendet würde.

In den ersten 15 Jahren nach Kriegsende sahen sich Überlebende der Shoah in Israel herber Kritik ausgesetzt, warum die Opfer sich „wie Vieh zur Schlachtbank haben führen lassen, statt zu kämpfen.“ Erst nach dem Eichmann-Prozess, vor allem aber nach dem 6-Tage-Krieg, begann man, die Gesetz gewordene Erinnerung an die Shoah mit der an den beachtlichen jüdischen Widerstand in den Lagern, den Ghettos und im Untergrund zu koppeln. Nicht nur Deutschland tat sich also schwer mit der eigenen Vergangenheit, auch in Israel wurde 15 Jahre lang lieber geschwiegen; nicht allein ob der Unaussprechlichkeit der Verbrechen, sondern auch, weil der „neue Jude“ nur mit äußerster Beklemmung in die Augenhöhlen seiner entmenschlichten Schwäche zu starren vermochte. Die Auseinandersetzung mit dem Täter ist immer auch eine – psychisch belastende – mit der eigenen Opferrolle.

Oft machte ich diese Erfahrung in Begleitung israelischer Jugenddelegationen nach Deutschland. Jeder Bahnhof, jeder Güterzug, jeder Rentner, jeder Schornstein löste kollektive Erinnerungen und oft physisches Unbehagen aus: sind auch hier Juden verladen worden? Haben die Deutschen beim Anblick der Züge weggesehen? War das ein Nazi? Gab es Krematorien inmitten der Städte? Angetan von Sauberkeit und Ordnung, von Freundlichkeit und ziviler Effizienz war man doch gleich wieder alarmiert. Haben sich die Deutschen wirklich geändert? Wie gut, dass wir uns unserer Veränderung gewiss sein können! Wie gut, dass es Israel gibt!

Ich glaube, dass es im Grunde nur wenige Jahre in den deutsch-israelischen Beziehungen gab, in denen beide Seiten gleichermaßen der Überzeugung waren, einen geglückten Neuanfang gemacht zu haben. Es war die Zeit zwischen der Vorphase des 6-Tage-Kriegs 1967 und dem Ausbruch des Yom-Kippur-Kriegs 1973. Die Jahre davor waren geprägt vom israelischen Misstrauen den Deutschen gegenüber, die Jahre danach von der wachsenden deutschen Enttäuschung, dass Israel der Rolle des David und der eigenen Idealvorstellung des Judenstaates nicht mehr entsprechen wollte.

Dabei schien ein Bild Israels als Vorlage zu dienen, welches Israel selbst geschaffen hatte und das von deutscher Seite nur allzu gern verinnerlicht worden war: wie Phönix aus der Asche war der Staat aus der Katastrophe erwachsen, hatte eine solidarische und gerechte Gesellschaft geschaffen, Wüste urbar gemacht, sich heldenhaft gegen eine arabische Übermacht zur Wehr gesetzt und letztendlich ein ordentliches Stück Europa im Nahen Osten etabliert. Was man daheim in Deutschland nicht mehr zu träumen wagte, in Israel war es Wirklichkeit geworden: funktionierender, demokratischer Sozialismus, Nächstenliebe, Kibbutzim, eine selbstbewusste Gewerkschaftsbewegung, und zur großen Freude sprachen viele der Protagonisten makelloses, wenn auch angestaubtes Deutsch. Da diese mit berechtigtem Stolz gern gerade Gästen aus Deutschland ihre alt-neue Heimat und die Errungenschaften ihrer Menschen näher bringen wollten, ergab sich rasch eine merkwürdig anmutende Kumpanei: wir zeigen Euch, was Ihr sehen wollt und Ihr sagt uns, was wir hören wollen.

Die junge Bundesrepublik Deutschland stand vor einer schwierigen Aufgabe: Zwar war ein neuer, demokratischer Staat entstanden, kleiner, geteilt, besetzt und geläutert, aber die Menschen waren die gleichen, die Richter, die Beamten, die Lehrer. Man kann wohl eine Regierung oder ein Regime stürzen, das Volk auswechseln kann man nicht. Das Volk bleibt das Volk. Wer also könnte legitim und glaubwürdig die veränderten Verhältnisse in Deutschland in die betroffene Welt tragen? Doch nur jene, denen die Gnade einer späten Geburt zuteil geworden war, die keine persönliche Schuld traf: Die Jugend. (Auch ich empfinde es bis heute als Gnade, oder besser schicksalhaften Glücksfall, als Jude in der zweiten und nicht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Welt gekommen zu sein.)

Und so ging es in jenen ersten Jahren nicht um einen Austausch im heutigen Sinne, ja nicht einmal um Begegnung, sondern vor allem um die Verbreitung des Bildes vom neuen Deutschen und vom neuen Deutschland. Dies galt übrigens nicht nur für den deutsch-israelischen Austausch, sondern auch für die Begegnungen mit den europäischen Nachbarn.

Hier aber traf sich deutsches und israelisches Interesse: Beide wollten in jener Phase nur wenig von der jüngsten Vergangenheit wissen: Weit wichtiger war es, das Bild des neuen Deutschen dort, des neuen Juden hier, des anderen Deutschland dort, der Errungenschaften des Judenstaates hier zu vermitteln. Sicher, man sollte den anderen kennen lernen, das hehre Ziel der Völkerverständigung verwirklichen, aber beide Seiten wollten um alles in der Welt wieder geliebt, oder zumindest gemocht werden. Für die einen war der Liebes- oder Achtungsentzug Ergebnis des Täterseins, für die anderen des 2000jährigen Opferdaseins. Insofern handelte es sich in den ersten Jahren – und teilweise noch bis heute – weniger um einen wirklichen Dialog, also einen Austausch, sondern mehr um zwei kanonisierende Monologe. Die nationale Scham der einen vervollständigte den nationalen Stolz der anderen und umgekehrt.

Ich denke auch, dass die deutsch-israelischen Beziehungen in nicht geringem Maße stellvertretend für die abgebrochenen Deutsch-Jüdischen geknüpft wurden.

Deutschland ohne Juden war ein ärmeres, langweiligeres Deutschland geworden und der vorsichtig einsetzende Dialog mit Israel war in mancher Hinsicht auch einer mit der eigenen, deutsch-jüdischen Diaspora. Vielfach konnte er in Deutsch geführt werden, denn die Wiedernutzbarwerdung des Deutschen war für viele Jeckes auch ein willkommenes Stück innerer Heimatfindung. Wie wichtig war für sie die deutsche Sprache, wie sehr hatten sie im Sprachexil unter ihrer anfänglichen Sprachlosigkeit gelitten.

Gedicht von Schalom Ben Chorin

Nach zwanzig oder dreißig Jahren des sprachlichen Exils standen ehemalige Berliner, Frankfurter und Kölner im Kibbutz, in Tel-Aviv und Jerusalem plötzlich jungen Deutschen gegenüber und zeigten ihnen ihre neue Heimat. Oft waren es gerade diese ehemaligen deutschen Juden, die ihren Gästen offen und herzlich entgegen traten, ihnen die Scheu nahmen und schon bald ein Gefühl der Familiarität und Freundschaft vermittelten.

Heute kann dies nicht mehr gelten. Erstens, weil inzwischen eine stetig wachsende Jüdische Gemeinde in Deutschland vorhanden ist. Es sind nicht die deutschen Juden von damals, aber es sind Juden in Deutschland. Sich mit ihnen auseinanderzusetzen ist nicht nur möglich, sondern nötig. Sie spielen wieder eine selbstbewusstere Rolle, als noch zu meiner Zeit hier, und sie nehmen mehr und mehr am öffentlichen Diskurs dieser Gesellschaft teil. Insofern entfällt diese Rolle für die Israelis: Kontakte zu und mit ihnen müssen um ihrer selbst willen und nicht als „Ersatzjuden“ geknüpft und gepflegt werden.

Zweitens sind auch die alten Jeckes, die Fremdenführer von einst, nicht mehr da. Gespräche können nur noch selten in Deutsch geführt werden, die alte Rollenverteilung gilt nicht mehr.

Dann kam die 68er Generation und sie griff schon 1972/73: Hier ging es um die Verabschiedung von den verabscheuten Werten der Eltern und Großeltern. Einer davon war die bedingungslose, nie hinterfragte Solidarität mit Israel. Man hatte durch die Gnade der späten Geburt seine persönliche Unschuld wieder, Israel hingegen hatte sie im 6-Tage-Krieg gerade verloren. So konnte – zur zusätzlichen Entlastung eines Restgewissens – die Opfer-der-Opfer-Theorie entstehen, die zur Solidarisierung mit den Palästinensern führte.

Unter dem Eindruck der Ölkrise, des Libanonkriegs und der ersten Intifada bröckelte das Bild weiter. Schwermütig wurde von deutschen Freunden die „Orientalisierung“ Israels beklagt, die Verrohung der Sitten, der „Verlust der Unschuld.“ Dann kamen die Equidistanz und immer häufigeres Kopfschütteln über die offensichtlich fehlende Bereitschaft der Israelis, aus der Vergangenheit zu lernen. „Gerade Ihr müsstet doch wissen…“ hieß es in hitzigen Debatten im Rahmen der „Historischen Seminare“ der Gewerkschaftsjugend, und Israelis reagierten trotzig mit „wir sind lieber unbeliebt und lebendig, als beliebt und tot“ und „was soll man machen, die KZs waren eben keine Besserungsanstalten!“ Deutsche bezogen in diesen Diskussionen gern einen universalistischen Blickwinkel auf die Shoah, Israelis hingegen bestanden auf dem partikularistischen. Die Deutschen sagten: „Nie wieder Täter, nirgendwo“, die Israelis „nie wieder wir als Opfer, irgendwo!“

In Deutschland hat sich eine politische Kultur der militärischen Zurückhaltung, des Souveränitätsverzichts und des Multilateralismus entwickelt. Im Land der Opfer wurde im Sinne des Diktums „Nie wieder Auschwitz“ in erster Linie auf staatliche Unabhängigkeit, militärische Stärke und Abschreckung gesetzt. Diese Ansätze sind durch das jeweilige geopolitische Umfeld weiter verstärkt worden. So verwundert es nicht, dass es in den Bevölkerungen beider Länder wechselseitig Unverständnis und Befremden gibt.

Mit der Wiedervereinigung kam ein neues Stück Deutschland dazu. Eines, das zuvor zu den erbittertsten Feinden gehörte, Israel nie anerkannt hatte, sich nicht zur gesamtdeutschen Verantwortung für den Holocaust bekennen wollte und palästinensische Terroristen ausgebildet und finanziert hatte. Insofern war das Ende der DDR „good news.“ Andererseits erkannte man in Israel die Notwendigkeit, sich verstärkt den Bewohnern der neuen Bundesländer zuzuwenden, denn es galt, ein immenses Informationsdefizit und viele Vorurteile auszuräumen.

Zu Beginn machte es den Anschein, dass es ein Replay des deutsch-israelischen Frühlings vom Ende der 60er Jahre geben würde: Staunen hier, Genugtuung da. Doch musste man rasch feststellen, dass die Halbwertzeiten der Sympathie sich enorm verkürzt hatten, die Sozialisation eine völlig andere war und die Vereinnahmungen der Menschen durch westdeutsche Strukturen und Bedenkenträger in Sachen Nahost bald Wirkung zeigte. Unverständliche Reaktionen auf den 11. 09., antiamerikanische Ressentiments, das schrille Nein zum Irakkrieg, fremdenfeindliche und antisemitische Ausfälle, sie alle prägten den Blick der Israelis auf Deutschland.

Die Wahrnehmung Deutschlands in Israel ist und bleibt selektiv. Rassistische und vor allem antisemitische Vorkommnisse werden sofort zur Kenntnis genommen, deutsche Außenpolitik auf ihre political correctness überprüft, wobei das als korrekt gilt, was sich mit Israels Interessen in Einklang bringen lässt, vor allem aber wird genau hingehört, wenn es deutsche Kritik an Israel gibt. Fast immer wird dann die Frage nach der Legitimität solcher Kritik an sich gestellt. Natürlich darf es Kritik geben, auch aus Deutschland. Die Frage ist, welches die Motive für diese Kritik sind. Entspringt sie einer ehrlichen Sorge um Israel und seine Menschen, oder dient sie nur der Apologetik für eine Distanzierung, die ganz andere Wurzeln hat? Anti-Israelismus und Antizionismus kann man leicht definieren, es sind Züchtungen des alten Antisemitismus, denn sie bedeuten die Verneinung des staatlichen Existenzrechts Israels, ganz gleich in welchen Grenzen. Das ist dann eine Frage von Sein oder Nichtsein. Der Staat Israel, egal unter welcher Regierung, gibt den Juden in aller Welt, wo immer sie leben, existenzielle Sicherheit, es ist der sichere Hafen, wenn es irgendwo wieder einmal Gefahr für Juden gibt, so wie in letzter Zeit für eine wachsende Anzahl französischer Juden, die sich in Paris und Marseille nicht mehr sicher fühlen. Wer den Juden diesen sicheren Hafen nimmt, ihn in Frage stellt, der zieht uns den Boden unter den Füßen weg. Das ist antijüdisch, also antisemitisch, und wenn nicht von der Veranlagung, dann zumindest vom Ergebnis her.

Mittlerweile hat man sich zwar daran gewöhnt, dass Kritik aus Deutschland an israelischer Vorgehensweise zum Ausdruck gebracht wird, ohne gleich alarmiert zu sein, aber sobald diese Handlungskritik zur Seinskritik eskaliert (Gedanken an Bi-Nationalität, Recht auf palästinensische Rückkehr, Infragestellung Israels Legitimität per se), tritt unausweichlich die Vergangenheit auf den Plan. Solche Kritik steht am schnellsten unter Antisemitismusverdacht, wenn sie von Deutschen geäußert wird, auch wenn ähnliche Positionen in Israel selbst als durchaus legitim, zumindest diskussionswürdig gelten.

Israelis begegnen Deutschen dennoch offener, als umgekehrt, weil sie ihnen im Normalfall „nur“ Vergangenes entgegenhalten, sich aber dessen bewusst sind, dass es keine persönliche Verantwortung der Nachgeborenen gibt. Deutsche hingegen sind auch einzelnen Israelis gegenüber zunehmend distanzierter, weil sie ihnen kollektive Verantwortung für Gegenwärtiges aufbürden. Das ist deshalb fatal, weil durch das israelische Zugehen bei gleichzeitigem deutschem Zu-rückweichen die Distanz gleich bleibt oder sogar größer wird. Alarmierend sind die Ergebnisse einer Bertelsmann-Studie vom Frühjahr, der zufolge nur 40% der Befragten Deutschen der Auffassung sind, Deutschland habe eine besondere Verantwortung für das jüdische Volk. Rund zwei Drittel – in der Altersgruppe von 18-29 sogar fast 80% – ärgern sich darüber, dass sie immer noch für die Verbrechen an den Juden verantwortlich gemacht werden. 55% wollen endlich einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen. Unter den Israelis hingegen lehnen 77% einen solchen Schlussstrich kategorisch ab. Fast 75% der Israelis sind der Überzeugung, dass Deutschland gegenüber dem jüdischen Volk nach wie vor eine besondere Verantwortung habe. Andererseits haben über zwei Drittel der Israelis ein insgesamt positives Bild von Deutschland, ein gleich großer Anteil der Deutschen ein negatives von Israel.

Die Wurzel des offenkundigen Auseinanderlebens zwischen Deutschen und Israelis liegt darin, dass das deutsche NIE WIEDER ein universalistischer, das hebräische LE’OLAM LO ein partikularistischer Schluss ist

Welches Bild hatten Juden (übrigens nicht nur sie) vor dem Krieg von Deutschen? Sie seien zäh wie Leder, flink wie Windhunde, hart wie Kruppstahl, militaristisch, hurrapatriotisch, brutal und kontinental schwermütig. Und das Bild vom Juden? Juden waren entwurzelte Figuren, vaterlandslose Gesellen, Luftmenschen und im besten Fall „Schokoladensoldaten“. Dann kamen jene 12 Jahre.

Deutsche haben daraus ihre Lehren gezogen: „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“, „Frieden schaffen ohne Waffen“ und „Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen!“ Das deutsche „Nie wieder“ nahm aber vor allem universale Bedeutung an: Man wolle alles dafür tun, dass so etwas nie wieder irgendwo oder irgendwem widerfährt.

Nicht so die Juden, und hier vor allem die Israelis. Unsere Lehre war eine diametral entgegengesetzte: „Wir können uns auf niemanden, nur auf uns selbst verlassen.“ „Wir müssen uns bewaffnen.“ „Nie wieder werden wir zulassen, dass uns so etwas noch einmal geschieht!“ Nehmen wir nur den abgewetzten Begriff „Land für Frieden“. Deutschland hat auf die Ostgebiete verzichtet und dafür Frieden und Anerkennung bekommen. Israel hat auf die einzige strategische Tiefe – die Sinai-Halbinsel – verzichtet, sich aus dem Südlibanon und dem Gazastreifen zurückgezogen und zum Dank Raketen und weitere Ablehnung geerntet. Jede Seite, Deutsche und Israelis, hat für sich die richtigen Schlüsse gezogen und deshalb versteht sie die andere Seite nicht.

Wie also haben diese so unterschiedlichen Schlüsse sich auf das jeweilige Bild vom anderen ausgewirkt? Befragen wir junge Deutsche, so finden sie die Israelis hurrapatriotisch, militaristisch und brutal. Und die Israelis sehen ihre deutschen Altersgenossen als verweich-licht an, sich ins europäische flüchtend, pazifistisch, Schokoladensoldaten.

So driften wir auseinander. Dem kann nur Einhalt geboten werden, wenn beide Seiten sich immer wieder vor Augen führen, dass unser so-Anderssein Ergebnis des gleichen geschichtlichen Ereignisses in unser beider Historie ist, beide Schlussfolgerungen nachvollziehbar, legitim und in sich schlüssig sind.

Unsere Kernaufgabe muss daher die Verhinderung des Auseinanderdriftens sein: durch Nähe, durch Vergleich der Lebensplanungen junger Leute in beiden Ländern, durch Besinnung auf gemeinsame Fundamente auch vor 1933 und auf universale Werte, denen sich Israelis letztendlich nicht verschließen! Das deutsch-israelische Verhältnis darf kein Projekt der Eliten sein!

Machen wir uns nichts vor, aber lassen wir uns auch nicht ein-schüchtern: die Krisen im Beziehungsgeflecht haben im Endeffekt zur Korrektur des Bildes vom anderen geführt!

Libanonkrieg, Intifada, Flottille und Siedlungspolitik dort, Leopard-Panzer, Bittburg, Degussa und antisemitische Ausbrüche während des jüngsten Gazakrieg hier, immer wieder gab es Belastungen der Beziehungen. Gemeinsam war allen Fällen, dass beide Seiten dem Idealbild, das sie von sich verbreitet hatten (und welches von Deutschen überschwänglich, von Israelis nur unter Vorbehalt verinnerlicht worden war), immer seltener entsprechen konnten. Die fortschreitende Entzauberung auf deutscher Seite, die zeitweilige Bestätigung alter Ängste auf israelischer Seite hatten mittelfristig einen durchaus positiven Effekt: Die Ernüchterung, dass Israel einfach nicht mehr nur eine Hora-tanzende, khaki-tragende F1-Generation mit sozialistischem Touch bei 30 Grad im Schatten ist, sondern eine komplexe, multikulturelle Gesellschaft mit tiefen sozioökonomischen Klüften, kulturellen Problemen, Fehlern und Zukunftsängsten, hat das, was an Freundschaft und Empathie Bestand behielt, verlässlicher und krisenfester gemacht.

Und die ehrliche innerdeutsche Auseinandersetzung mit Fragen des Waffenhandels, des Umgangs mit Minderheiten und immer wieder mit der Shoah hat den Israelis gezeigt, dass eine offene, mutig geführte Diskussion oft wichtiger ist, als die trügerische Sicherheit, ohnehin alle richtigen Antworten zu haben.

Es scheint, als ständen beide Seiten ständig auf dem Prüfstand des anderen: Deutschland muss den Israelis beweisen, dass es unumstößlich zum Judenstaat steht, nach allem was war. Tut es das vermeintlich auch nur ansatzweise nicht, dann hat man es ja immer gewusst. Und Israel muss sich dem deutschen Schuldbekenntnis würdig erweisen. Tut es das nicht, kann die eigene Schuld so groß nicht gewesen sein. Beide Pathologien machen deutlich, dass auch 70 Jahre nach Kriegsende und 50 Jahre nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen die deutsch-jüdische Katastrophe die Sicht aufeinander und damit das Verhältnis zueinander maßgeblich mitbestimmt.

Es drängt sich aber die Frage auf, ob die Vergangenheit eine Zukunft hat.

Ich bin davon überzeugt, dass die Shoah das formative Ereignis und die maßgebliche Koordinate eigenen Selbstverständnisses im Verhältnis von Deutschen und Israelis zueinander ist und bleibt.

Ich bin davon überzeugt, dass die partikularistisch jüdischen, wie die universalistischen Lehren aus der Shoah eine bedeutende Triebkraft zur Gestaltung der Zukunft beider Gesellschaften und ihres Miteinanders sind.

Ich bin aber genauso davon überzeugt, dass weitere Inhalte entwickelt werden müssen, die wirkliche Gemeinsamkeiten entstehen lassen: Aufzeigen von Ähnlichkeiten der Berufs- und Lebensplanungen in beiden Gesellschaften, die Herausforderung, Freiheit und Sicherheit in Einklang zu bringen, Wirtschaft und Umwelt, Regionalität und Globalisierung.

Ich wünsche mir israelische Freiwillige in Deutschland, nicht nur umgekehrt, viel mehr Hebräischkurse hier, noch mehr Deutschkurse in Israel. Ich wünsche mir deutsche Studenten und Praktikanten in Israel, nicht nur im Kibbutz, sondern in Hightechunternehmen und Startups. Ich wünsche mir neue Impulse bei den Städtepartnerschaften, auch in Hinblick auf Chancen wirtschaftlicher Kooperation in den Bereichen der Nachhaltigkeit, der Mobilität, der Sicherheit und der Inkubation junger Unternehmen. Ich glaube an die Notwendigkeit, möglichst breite Schichten unserer Bevölkerung bei diesen Maßnahmen zu berücksichtigen: Migrationshintergrund hier, Nichtjuden und Religiöse dort.

Ich wünsche mir eine enge Zusammenarbeit im Bereich des Technologietransfers zwischen israelischen Ausgründungen und deutschem Mittelstand. Hier können beide nur gewinnen. Und es wird Zeit für eine Wirtschaftsdelegation aus NRW nach Israel!

Und zum Schluss noch dieses:

Man sagt, Frauen treten in der Hoffnung vor den Altar, dass ihre Männer sich mit der Zeit verändern, während Männer sich beim Jawort heimlich wünschen, ihre Frauen mögen für immer so bleiben, wie an diesem Tag. Vor 50 Jahren war es zwischen Deutschland und Israel wohl ähnlich: Deutsche hofften, dass Israel sich nie verändern würde, und Israelis hegten den Wunsch, dass Deutschland es täte. Es scheint, dass beide Wünsche nicht wirklich in Erfüllung gehen konnten, ganz wie im richtigen Leben. Ist das ein Scheidungsgrund? Wer weiß, Hauptsache, es wird was aus den Kindern, und es geht ihnen gut!

 

 


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