IRANS ATOMPROGRAMM – Friedlich in die Katastrophe

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IRANS ATOMPROGRAMM
Friedlich in die Katastrophe

Von Henryk M. Broder

 

Iran erklärt sich zur Atommacht, die Internationale Atomenergiebehörde gibt zu, dass sie die Situation falsch eingeschätzt hat – und niemand regt sich auf. Warum auch? Wir sind nicht gemeint.

Angst ist ein Meister aus Deutschland. Neben „Kindergarten“, „Kaffeeklatsch“ und „Weltanschauung“ das bekannteste deutsche Leihwort in vielen Sprachen. Angst zu haben, gilt in Deutschland nicht als Zeichen von Schwäche, sondern als Nachweis von Vernunft. Zurzeit grassieren, neben vielen kleinen, zwei große Ängste in Deutschland: vor der Zerstörung der Welt und vor dem Absturz in die Armut. Während 60 Prozent der jungen Deutschen unter 29 Jahren vor allem Angst vor sozialem Abstieg haben, vergleicht Umweltminister Sigmar Gabriel die Bedrohung durch globale Erwärmung mit dem atomaren Wettrüsten zwischen Ost und West zur Zeit des Kalten Krieges.

Was früher die atomaren Mittelstreckenraketen waren, die zu beiden Seiten des Eisernen Vorhangs standen, das ist heute der CO2-Ausstoß.

Der Vergleich mag ein wenig übertrieben sein, aber trifft die Stimmung im Lande recht genau. Der „atomare Holocaust“, vor dem einst viele in den „atomwaffenfreien Zonen“ ihrer Wohnküchen Zuflucht suchten, hat seinen Schrecken verloren, dafür gruselt man sich heute bei der Vorstellung, halb Deutschland könnte als Folge der polaren Eisschmelze überflutet werden. Und kaum jemand wäre überrascht, wenn demnächst am Deutschen Eck bei Koblenz die ersten Krokodile aus dem lauwarmen Rhein an Land gehen würden.

Nur eine Gefahr, die sich über Jahre systematisch aufgebaut hat, wird nicht wahrgenommen: die der iranischen Atombombe. Das ist umso seltsamer, als die Deutschen kaum eine Gelegenheit verpassen, Angst zu fühlen und zu artikulieren. Warum also nicht in diesem Fall? Woher kommen die Ruhe und die Gelassenheit angesichts des iranischen Atomprogramms?

Am 15. Mai erschien in der „New York Times“ ein größerer Artikel über den aktuellen Stand der Uran-Anreicherung in Iran. Inspektoren der Internationalen Atomenergie Agentur (IAEA) hatten ohne vorherige Ankündigung die Anlage von Natans besucht und dabei festgestellt, dass die Iraner „offenbar die meisten technischen Probleme gelöst haben“ und in der Lage sind, „Uranium in einem viel größeren Umfang als bisher anzureichern“. In dem Bericht wurde der Chef der Agentur, Mohammed ElBaradei, mit dem Satz zitiert: „Wir glauben, dass sie das nötige Wissen für die Anreicherung haben, jetzt müssen sie es nur noch perfektionieren. Das werden die Leute nicht gerne hören, aber es ist eine Tatsache.“

Der Bericht der „NYT“ wurde von allen großen Agenturen aufgegriffen. Am 16. Mai konnte man in einer Meldung auf Seite 9 in der „Süddeutschen Zeitung“ lesen: „Iran macht Fortschritte“, im Berliner „Tagesspiegel“ hieß es auf Seite 6: „Iran bei Urananreicherung weiter als angenommen“, die „taz“ schmunzelte in der rechten unteren Ecke auf Seite 9: „IAEA: Irans Uran wird immer mehr“; die einzige Zeitung, die den „NYT“-Bericht auf ihrer Titelseite zitierte, war die „FAZ“, wenn auch nur kurz und am Ende einer Meldung über die Bemühungen des EU-Außenbeauftragten Javier Solana, mit den Iranern ins Gespräch zu kommen. In einem Kommentar auf Seite 12 zeigte sich die „FAZ“ überrascht darüber, dass die IAEA überrascht war.

Alles in allem praktizierten die deutschen Zeitungen eine Zurückhaltung, als wollten sie ihren Lesern nicht zu viel zumuten, sie nicht unnötig erschrecken. Zumal ein anderes Thema alle Aufmerksamkeit auf sich zog: der bevorstehende G-8-Gipfel in Heiligendamm und die Proteste der Globalisierungsgegner. So titelte der „Tagesspiegel“ mit der Schlagzeile: „Popstars warnen G-8 vor Gewalt“ und illustrierte die Warnung mit einem vierspaltigen Foto, auf dem die Musiker Herbert Grönemeyer, Bono und Bob Geldof zu sehen waren, die „mehr Geld“ für Afrika forderten.

Als spielte Ahmadinedschad Modelleisenbahn

Das war zwar nichts Neues – schon vor zwei Jahren, zum G-8-Gipfel in Schottland, hatten Grönemeyer, Bono und Geldof dieselbe Forderung erhoben – aber es war dennoch das Top-Thema des Tages, mit dem keine Horror-Meldung aus der iranischen Atom-Küche mithalten konnte. Offenbar hatte sich die Öffentlichkeit inzwischen daran gewöhnt, dass der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad zu seinen Nuklear-Anlagen ein Verhältnis pflegt wie andere Männer zu Modelleisenbahnen, mit denen sie vor ihren Nachbarn angeben.

Anfang Oktober 2006 gab Ahmadinedschad bekannt, die iranischen Atomanlagen sollten für ausländische Touristen geöffnet werden, um zu zeigen, „dass das Atomprogramm friedlichen Zwecken dient“; weniger entgegenkommend zeigte sich der Präsident im Januar 2007 gegenüber Inspekteuren der Atomenergiebehörde; die IAEA berichtete, ihre Mitarbeiter würden behindert, Iran verweigere den Einbau wirkungsvoller Überwachungseinrichtungen in den Atom-Anlagen. Zugleich wurde bekannt, der Direktor der IAEA, ElBaradei, habe „Hinweise auf mögliche Täuschungen beiseite geschoben und nicht veröffentlichen lassen“.

Nur vier Wochen später, im Februar 2007, überraschte Ahmadinedschad die Welt mit einem „Angebot“; er sei bereit, sein Atomprogramm auszusetzen, wenn der Westen mit gutem Beispiel vorangeht. „Die Gerechtigkeit verlangt, dass diejenigen, die mit uns Verhandlungen führen wollen, ihre Programme … ebenfalls abschalten, dann können wir einen Dialog in einer fairen Atmosphäre führen.“ Zu dem Zeitpunkt war die Frist, die der Uno-Sicherheitsrat Iran im Dezember 2006 gesetzt hatte, die Urananreicherung zu stoppen, gerade abgelaufen. Ahmadinedschad machte weiter, der Uno-Sicherheitsrat auch, indem er weitere „Sanktionen“ in Aussicht stellte.

Ahmadinedschad reagierte, indem er erklärte, Iran sei ein „Zug ohne Bremsen und ohne Rückwärtsgang“, eine Einstellung des Atom-Programms komme nicht in Frage. Genau zwei Monate später, im April 2007, bestätigte die IAEA den Beginn der Urananreicherung in der unterirdischen Anlage in Natans.

Man habe dort etwa 1300 Zentrifugen in Betrieb genommen. Die „riesige Fabrikhalle“ biete Platz für etwa 50.000 Zentrifugen. Zugleich verweigerte Iran den IAEA-Inspektoren den Zugang zu einem im Bau befindlichen Schwerwasserreaktor, woraufhin die IAEA an Iran appellierte, die Maßnahme zu überdenken und die Inspektoren nicht auszusperren.

Den Daueralarm nimmt niemand mehr wahr

Während die „Welt“ und andere Zeitungen „Entsetzen über Irans neue Atompläne“ meldeten, spekulierten Experten darüber, ob Iran tatsächlich in der Lage ist, atomwaffenfähiges Uran herzustellen und wie lange es noch dauern wird, bis das Land die Atombombe bauen kann. Dies könnte in „vier bis sechs Jahren“ der Fall sein, erklärte eine Sprecherin der IAEA, „es gibt also noch viel Zeit zu verhandeln“, zumal es noch keine „sichtbaren Belege“ gebe, dass Iran sich für den Bau einer Atombombe entschieden habe.

Anfang Mai sprach Außenminister Frank-Walter Steinmeier in einem Fernseh-Interview von der „Pflicht“, die Uran-Anreicherung in Ländern wie Iran zu stoppen – freilich ohne in technische Details zu gehen.

Das ganze Procedere zeigt vor allem, dass Iran Tempo und Richtung der Auseinandersetzung bestimmt, während der Rest der Welt nur seine zunehmende Ratlosigkeit demonstriert. Wie bei einem Feuermelder, den niemand mehr zur Kenntnis nimmt, weil er zu oft betätigt wurde, hat sich auch das öffentliche Interesse am iranischen Atomprogramm auf den Umfang von Kleinmeldungen reduziert. Nicht einmal der Bericht der „NYT“ vom 15. Mai und die Erklärung von ElBaradei, die Iraner hätten inzwischen den Durchbruch erzielt, vermochte es zu reanimieren.

Dennoch bleibt die Frage, wieso Menschen, die lieber teuren Öko- als billigen Atomstrom beziehen und dem Klima zuliebe sogar auf Fernreisen zu verzichten bereit sind, über das iranische Atomprogramm nicht in Aufregung geraten? Über die Antwort kann nur spekuliert werden. Weil sie davon überzeugt sind, dass Ahmadinedschad ein verantwortungsbewusster Politiker und kein Pyromane ist? Weil sie seinem Versprechen trauen, die Atomkraft nur für „friedliche Zwecke“ zu benutzen? Weil sie auch der Meinung sind, Iran brauche die Bombe, um als „gleichberechtigter Partner“ anerkannt zu werden?

Macht der Fallout einen Bogen um Deutschland?

Eine ganz andere Möglichkeit hat vor kurzem der Direktor des Hamburger Orient-Instituts, Udo Steinbach, thematisiert. Er glaube nicht, dass Europa sich von Iran bedroht fühlen müsste, sagte er in einem Gespräch mit einem Online-Magazin, „Europa wäre sicher das letzte Ziel, das Iran einfallen würde, falls er wirklich aggressive Absichten verfolgen sollte“, eine „Atommacht Iran“ wäre nur „für seine Nachbarn“ eine Bedrohung, „zum Beispiel für eine säkulare Türkei und natürlich für Israel“.

Die heitere Gelassenheit, mit der Steinbach die möglichen Zielkoordinaten iranischer Atombomben benennt, wird nur noch von seiner Naivität übertroffen, was die Folgen einer solchen Aktion angeht. Er scheint davon auszugehen, dass der atomare Fallout im schlimmsten Fall einen weiten Bogen um ihn und sein Institut machen wird. Das könnte auch die Erklärung für die allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber dem iranischen Atomehrgeiz sein, von dem sich hierzulande offenbar niemand bedroht fühlt – derweil schon der Anbau von genmanipulierten Mais hysterische Reaktionen auslöst.

Während die Iraner sagen, was sie meinen, und das tun, was sie ankündigen, trösten sich die Deutschen mit der Vorstellung, die iranischen Raketen würden allenfalls in Nachbars Garten einschlagen. Denn sollte es die „säkulare Türkei“ und „natürlich Israel“ erwischen, würden zwar viele Tote, aber nicht die üblichen unschuldigen Opfer zu beklagen sein.

Angst ist ein Meister aus Deutschland. Ignoranz auch.


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