Selbstverbrennungen im islamischen Gottesstaat

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Selbstverbrennungen im islamischen Gottesstaat

 

 

Der folgende Beitrag stammt aus der reformislamistischen Zeitung Sharq. Die Autorin Parvin Bakhtiarnejad thematisiert ein in der Tat grausames und verdrängtes Problem der iranischen Gesellschaft: die Selbstverbrennung. Für Bakhtiarnejad sind Selbstverbrennungen nur ein Problem der ungebildeten zurückgebliebenen Landbevölkerung, die die Hilfe der städtischen Bevölkerung braucht.

Bakhtiarnejad gelingt  es nicht die Gründe für die Selbstverbrennungen zu nennen, die für  Soziologen und Psychologen im Exil offensichtlich sind:  Die diktatorische Unterdrückung durch den Staat. Denn zwar tauchen die Probleme in den Provinzen eher auf als in den Städten, aber es gibt auch in den Städten immer wieder Berichte von Selbstverbrennungen.

In einer iranischen Zeitung kann nicht thematisiert werden,  dass diese grausame Form von Selbstmord auch etwas mit der Hilflosigkeit der Menschen gegenüber der Unterdrückung der Diktatur und ihrer anachronistischen Gesetze zu tun hat.

Im Folgenden wird der gesamte Artikel übersetzt und dokumentiert.

 

 

 

 


http://www.sharghnewspaper.ir/Released/86-04-04/259.htm

 

 

„Ursache der Selbstverbrennungen“

 

„Die Selbstverbrennungen von Frauen, von Kindern und sogar von jungen Männern ist nicht nur ein Problem der Menschen in der Provinz Ilam, sondern auch von denen, die in den Provinzen Lorestan, Kurdistan, Kermanshah, Khusistan, Chaharmahal und Bakthiari, Ardebil, Ost-Aserbaidjan, oder in dem turkemenischen Teil von Golestan und Bushehr leben. Es handelt sich um ein wachsendes Problem, das viele Ursachen hat.“

 

 

„Änderungen der Bevölkerungszahl“

 

„Soziologen analysieren die 80er[1]  Jahre in Iran als  ein Jahrzehnt immenser gesellschaftlicher Probleme. Die Bevölkerung ist sehr jung, so dass 35 Prozent der Bevölkerung zwischen 15-20 Jahre alt sind.

 

Der Bevölkerungsanteil der Landwirte sinkt, so dass gegenwärtig 68 Prozent der gesamten Bevölkerung in den Städten wohnt. Und infolge dieser Flut an Migration sind die Armut und die Ungleichheit als ein bitterer Beigeschmack der Veränderung der Bevölkerungsstruktur gestiegen.

Psychologen sind zu dem Ergebnis gekommen, dass solange der Mensch sein Umfeld beherrscht, seine Unruhe und sein ungesundes Verhalten nicht so stark sind, dann fühlt er sich eher nützlich und verantwortlich, um auch auf die ungesunden Verhaltensformen der anderen Menschen hinzuwirken, damit diese geringer werden.

 

Die asozialen Verhaltensformen beruhen auf einem Gefühl der Nichtzugehörigkeit. Ein Mensch, der keiner Gemeinschaft und keiner sozialen Gruppe angehört, fühlt sich nicht sicher. Es ist als ob ein verlorener Mensch versuchen würde, ruhiger zu werden, indem er sich asozial verhält.“

 

 

„Familiäre Widersprüche“

 

„Infolge der Bewusstwerdung der Frauen über ihre individuellen Rechte haben familiäre Konflikte in einer sichtbaren Form zugenommen.

 

Die Normen einer jeden Gesellschaft zeichnen die Werte und die Verhaltensorientierungen, seien diese persönliche oder allgemeine, der Vergangenheit und der Zukunft aus und wenn eine Person diese Gesetze verletzt, wird diese Person schwerwiegende Reaktionen ihrer Umwelt erleben müssen und da das Individuum nicht die Kraft hat die Normen zu ändern, geht es unterschiedliche Wege, manche tun sich selbst Gewalt an.

 

Beispielsweise können familiäre Konflikte entstehen, wenn junge Mädchen mit älteren Herren verheiratet werden, wenn Cousins und Cousinen miteinander heiraten, wenn patriarchalische Strukturen so stark vorherrschen, dass eine Frau überhaupt keine Rechte besitzt, wenn Zwangsverheiratungen vorgenommen werden, weil die Frauen sich den Stammeskonflikten, die Männer geschaffen haben, fügen und sich verheiraten lassen.

 

Die Mädchen, die in weit entlegenen ländlichen Gebieten leben, werden von den Medien beeinflusst und genießen auf unterschiedlichen Ebenen Bildung oder treten in Kontakt mit Menschen aus anderen Städten oder Dörfern, werden sich über ihre eigene Lage immer bewusster, so dass sie in gedankliche und psychische Konflikte geraten. Da die Fragen der Frauen unbeantwortet bleiben, werden sie immer introvertierter, apathisch und enttäuscht.“

 

 

„Depressionen“

 

„Die psychologische Erklärung für Depression ist das Gefühl der Trauer, mangelndes Interesse für die anderen, eine Sensibilisierung für die eigenen Schwächen, Selbsterniedrigung, die Müdigkeit des Geistes, die Unfähigkeit Entscheidungen zu treffen, zu schnelle Ermüdung und körperliche Leiden. Die Psychologen sehen wirtschaftliche Probleme und Arbeitslosigkeit als Ursache solcher Krankheiten, insbesondere wenn die Erwartungen eines Menschen den Realitäten nicht entsprechen.

Wie manche offizielle Statistiken belegen, leiden in der Provinz Ilam die Frauen zwei bis drei Mal häufiger unter Depressionen als Männer. Wie die Forschungsergebnisse der Studenten der Ilam-Universität ergeben haben, leiden auch 12 Prozent der Studenten dieser Provinz unter starken Depressionen.

 

29,5 Prozent der Studenten der Provinz Ilam haben Gedanken der Hoffnungslosigkeit und 26 Prozent dieser Personen leiden unter Selbstmordgedanken. Dr. Yarmohammad Qassemi, Ilamer Soziologe, sagte uns bezüglich der Selbstverbrennungen von Frauen: „Wir sind eine Nomadengesellschaft. Die zwischenmenschlichen Beziehungen beruhen auf Blutsverwandtschaft und Stammeszugehörigkeit. Eine Frau aus Ilam ist mit ihrem machtbewussten Mann konfrontiert, wobei die Macht des Mannes, der in die Stadt ausgewandert ist, geringer geworden ist. Die Frauen aus Ilam fühlen sich machtlos. Seit zwei Jahrzehnten sind wir Zeugen von Selbstverbrennungen der Frauen und haben seitdem keine vorbeugenden Maßnahmen getroffen. Was ich bisher verstanden habe, ist, dass die Frauen unter Einsamkeit und Machtlosigkeit zu Hause und in der Gesellschaft leiden.“

 

 

„Offenheit ist besser“

 

„Wir haben die Hälfte dieses Jahrzehnts hinter uns gelassen. Seit zwei Jahrzehnten kennen wir das Phänomen der Selbstverbrennungen unter Frauen, Jugendlichen und den Kindern der genannten Gebiete. Bisher haben wir aber keine prinzipiellen Strategien entwickelt, um die menschlichen Kräfte dieser unheildrohenden Krisen zu zügeln.

 

Die schweren wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen die Bevölkerung leben muss, hat uns nicht dazu veranlasst wissenschaftliche, kulturelle oder bildungspolitische Vorsorgen zu treffen. Es gibt weder eine kurz- noch mittel- oder langfristige Planung, um diese Probleme zu beheben. Es wäre wichtig  zu begreifen, dass die Frauen und Männer, die in den entlegenen und zurückgebliebenen Gegenden wohnen, sehr stark auf Bildung angewiesen sind. Sie sind angewiesen darauf, ihre Schwächen und Stärken zu lernen. Diese verletzten Menschen sind darauf angewiesen mit Frauen und Männern, die in den Zentren wohnen, zu kommunizieren.

 

Ist es nun nicht besser, dass wir auf unser tiefes Verständnis, auf unser Gefühl der Menschlichkeit und auf unser Expertenwissen vertrauen und die gesellschaftlichen Probleme offen ansprechen und wissenschaftliche und handlungsorientierte Lösungsstrategien für unsere Bürger finden?“

 

[Sharq, 25.6.2007, http://www.sharghnewspaper.ir/Released/86-04-04/259.htm]

 

 



[1] Das Jahr 1386 entspricht dem Jahr 2007

 

 

 

 


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