Wo der Sabbat kein Sonntag ist – Serie: 60 Jahre Israel

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Jerusalem, 6. Februar 2008 – Das Klischee einer „israelischen Theokratie“ ist weit verbreitet. Es erhielt neue Nahrung, als Ministerpräsident Ehud Olmert vor dem Nahosttreffen in Annapolis die Forderung einer arabischen Anerkennung Israels als „jüdischer Staat“ aufstellte.
Das erste Missverständnis liegt am deutschen Schubladendenken und dem Mangel an passenden Begriffen, „Jude“ zu definieren. Die teilweise ungeheuerlichen und aus der Tradition des modernen Antisemitismus entstandenen Formulierungen wie „mosaischen Glaubens“, „jüdischstämmig“ oder „Halbjude“ liegen an geistigen Verrenkungen, um das vermeintliche Schimpfwort „Jude“ zu vermeiden. Dem deutschen Wesen ist das jüdische Selbstverständnis fremd, gleichzeitig „Volk“ zu sein, eine Kultur oder Religion zu haben und über alle Welt verstreut zu leben. Zusätzlich gibt es religionslose Juden, die sich Atheisten bezeichnen, kein Wort Hebräisch sprechen und jüdische Gebräuche verschmähen. Es gibt weder eine „jüdische Rasse“ noch gibt es „Semiten“. Die vor 200 Jahren erfundene Einteilung der Menschheit in Rassen aufgrund von Sprachfamilien hätte spätestens 1945 abgeschafft werden müssen. Anstelle des „Halbjuden“ sollte der „Halbchrist“ in den Sprachgebrauch aufgenommen werden, um die Absurdität dieses Begriffs hervorzuheben.
Im Staat Israel läuft seit 60 Jahren die von Staatsgründer David Ben Gurion angestoßene Diskussion zur Frage „Wer ist Jude“. Wichtig ist das für die bürokratische Umsetzung des „Rückkehrrechts“ für Juden, also der Berechtigung von Einwanderern bei der Ankunft auf dem Flughafen Pass und Staatsbürgerschaft verliehen zu bekommen. Trotz des Gesetzes, wonach einer Jude ist, der eine jüdische Mutter hat oder zum Judentum konvertierte, wurden stillschweigend Menschen ins Land eingelassen, die als Juden verfolgt wurden, ohne Juden zu sein.
In Israel wird Religionsfreiheit per Gesetz garantiert. Im „jüdischen“ Staat gibt es keine Staatsreligion und nicht einmal einen gesetzlich gemäß einer „Industrienorm“ geregelten wöchentlichen Ruhetag, wie Sonntag in Deutschland laut DIN ISO 8601. Jude, Moslem oder Christ kann selber bestimmen, ob er am Freitag, Sabbat oder Sonntag seinen Laden schließt. In Haifa und Beer Schewa, Städten mit großer arabischer Minderheit, fahren auch am Sabbat Linienbusse und in Nazareth ohnehin. Dass die Supermarktketten nur koschere Speisen verkaufen, hat geschäftliche Gründe. Im überwiegend jüdisch-frommen Jerusalem bieten mitten im Zentrum Delikatessen-Läden zu überhöhten Preisen Schweinerippchen und Shrimps feil. In der Armee wird koscher gekocht, weil das der niedrigste gemeinsame Nenner ist für Juden, Moslems, Drusen und Christen.
Mangels staatlicher Standesämter können etwa 300.000 Menschen in Israel nicht heiraten. Als „Diktatur der Orthodoxen“ werden immer wieder tragische Fälle hochgespielt, wenn Soldaten ohne Religionsangehörigkeit nicht begraben werden konnten. Israel hält an den alten Regeln der Osmanen fest, alle standesamtlichen Angelegenheiten den anerkannten Religionsgemeinschaften zu überlassen. Die bestehenden Auswege, eine Reise zum Standesamt in Zypern, oder zwei Quadratmeter Boden für ein Grab in einem weltlichen Kibbuz zu kaufen, sind teuer. Das Thema wird öffentlich diskutiert, vor allem innerhalb der jüdischen Gesellschaft. Aber noch scheut sich Israel, die Befugnisse der Religionen zu beschneiden.
Innerhalb der jüdischen Gesellschaft Israels gibt es Gruppen und Strömungen mit unterschiedlicher Frömmigkeit. Die schlossen sich zu politischen Parteien zusammen. Deren Hauptinteresse liegt allerdings nicht in der „großen Politik“, Beziehungen zu den Palästinensern, Siedlungen oder strategische Militärfragen. Die teilweise anti-zionistisch orientierten ultraorthodoxen Parteien schließen sich traditionell der Regierungskoalition an, wollen aber keine Verantwortung übernehmen. Sie verlangen den Vorsitz des Finanzausschusses in der Knesset. Die orientalisch-fromme Schasspartei stellt Minister und bemüht sich um Gelder für fromme Schulen. Ebenso will sie russische Schweinefleisch-Läden aus Stadtzentren in die Industriezentren am Stadtrand verdrängen. Auf dem Höhepunkt der Popularität von Schass bildete sich als Gegengewicht die weltlich liberale Schinui-Partei mit dem Programm, den Einfluss der Frommen einzudämmen. Diese beiden Phänomene zeigen, dass in Israel der „Kulturkampf“ mit demokratischen Mitteln ausgefochten wird.

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