Der erste Jahrestag von Hamastan

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Jerusalem, 15. Juni 2008 – „Der Gestankpegel ist im Gazastreifen deutlich
angestiegen“, erzählt ein Journalist, der sich allen Entführungswarnungen
zum Trotz kürzlich in den Gazastreifen wagte, um Bekannte zu besuchen. Die
Kloake fließt ungeklärt ins Mittelmeer oder in Abwasserseen, deren Dämme
gelegentlich brechen und tödliche Überschwemmungen verursachen, in denen
Menschen und Tiere ertrinken. Der Grund für die Misere liegt bei Israel wie
bei der Hamas selber. Denn ohne Strom laufen die Pumpen nicht. Israel lässt
auch keine Ersatzteile in den Gazastreifen, wegen des Boykotts, der von der
palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah und den meisten westlichen
Ländern mitgetragen wird. Die Stromausfälle und der Mangel an Dieselöl für
die Generatoren sind von der Hamas hausgemacht, wie auch die Schließung der
Grenzübergänge. Als vor zwei Wochen die Hamas einen Lastwagen mit vier
Tonnen Sprengstoff in Sichtweite des Grenzübergangs Erez sprengte,
zersplitterten nicht Fensterscheiben in grenznahen israelischen Ortschaften.
Es wurde auch eine der Hochspannungsleitungen umgeknickt, über die Israel
von dem regelmäßig mit iranischen Grad-Raketen beschossen Rutenbergkraftwerk
rund 60 Prozent des im Gazastreifen benötigten Stroms liefert. Nur über Erez
können Diplomaten, Journalisten und andere Priviligierte in den Gazastreifen
wechseln. Auf umgekehrtem Weg gelangten in den letzten 12 Monaten über 7000
Palästinenser, viele von ihnen krebskrank oder durch Schüsse verletzt, zur
Behandlung nach Israel oder Jordanien.
Selbst internationale Organisationen bestätigen, dass im Gazastreifen kein
Hunger herrsche. Seit dem 15. Juni 2007 seien 24,358 Lastwagen mit  571,852
Tonnen „humanitärer Hilfe“ gerollt. Diese Angaben veröffentlichen
übereinstimmend israelische Stellen und eine britische Hilfsorganisation,
die namentlich nicht zitiert werden will. Neben Mehl, Zucker und Tee
gelangen auch Pulvermilch, Spritzen und Gummihandschuhe sowie Serum gegen
die Maul- und Klauenseuche in den Gazastreifen. Diese Hilfsgüter gelangen
über die Grenzposten Sufa und Karni zu den Palästinensern, wenn sie nicht
gerade wegen Mörserbeschuss zeitweilig geschlossen werden müssen.
Benzin, Dieselöl und Kochgas gelangt über Nachal Oz in den Gazastreifen.
Doch die Tanks auf der palästinensischen Seite waren zeitweilig bis zum
Überlaufen voll, weil die Hamas ein Abholen der Kraftstoffe verhinderte, um
künstlichen Mangel zu erzeugen. „Fahren Sie zur Polizeistation, da dürfen
sie volltanken“, wies ein Sicherheitsmann der Hamas den Taxifahrer an, der
einen westlichen Journalisten umherfuhr. Die Polizei wird von der Hamas
gestellt, ausgestattet mit Waffen, die sie von der Fatah-Polizei übernommen
hatte. Wer dem Regime der Hamas genehm ist, erhält auch Benzin.
Vor einem Jahr putschte die Hamas. Über dreihundert Menschen starben bei den
Kämpfen. Fatah-Leute wurden von Dächern in den Tod gestoßen, in die Knie
geschossen oder flohen nach Ramallah. Hunderte sitzen in den Gefängnissen.
Derweil hat die Hamas ihre Macht ausgebaut. Mit großem Sicherheitsaufwand
unterdrückte sie am ersten Jahrestag jegliche Proteste gegen die Misere.
Mit dem Raketenbeschuss grenznaher israelischen Orte und der Entführung des
Soldaten Gilad Schalit gelang es der Hamas, Israels Regierung unter Druck zu
setzen. Mit ägyptischer Vermittlung wurde Israel zu Verhandlungen über eine
„Tahdija“, einem zeitweiligen Waffenstillstand, gezwungen. Denn die seit
über einem Jahr von Jerusalem angedrohte Großoffensive wurde bis heute nicht
beschlossen. „Wir haben den Gazastreifen nicht geräumt, um zurückzukehren“,
lautet ein israelisches Argument. Die hohe Zahl der zu erwartenden Opfer,
unter den eigenen Soldaten wie bei den Palästinensern, bedeutet eine
vorprogrammierte moralische Niederlage für Israel. Und zudem fragen sich
Israelis: „Angenommen wir gehen rein. Wem sollten wir Gaza übergeben, wenn
wir uns wieder zurückziehen?“ Denn die Hamas ist in der palästinensischen
Bevölkerung so populär, dass sie auch im Westjordanland die korrupte
Fatah-Organisation des Präsidenten Abbas ablösen könnte. So kann es sich die
Hamas erlauben, Israel zu provozieren und mangels Gegenmitteln zu
demoralisieren, ohne selber eine politische Niederlage befürchten zu müssen.
Die eigenen Toten, über 300 seit Jahresbeginn, werden als Märtyrer gefeiert.

Die radikal-islamistische Hamas, ursprünglich aus den ägyptischen
Moslembrüdern hervorgegangen, ist diszipliniert und brutal. Sie zwingt die
Männer zum Barttragen und die Frauen zum Verhüllen mit Kopftüchern. Ihre
rund 17.000 Männer unter Waffen reisen durch Schmugglertunnel über Ägypten
nach Iran und Afghanistan zum Training. Ihnen mangelt es nicht an Geld.
Auch beim Sprengstoff gibt es keine Engpässe, wie die Raketen beweisen und
bei „Arbeitsunfällen“ explodierte Häuser von Hamas-Kämpfern, wenn die ihre
Bomben unsachgemäß mitten in Wohngebieten basteln. Nichts scheint die Kraft
und vor Allem die Ideologie der extremistischen Hamas brechen zu können,
weder der israelische Boykott, noch die geschlossenen Grenzen, noch die
Arbeitslosigkeit unter der Bevölkerung. Auch die Tatsache, dass die Existenz
eines Hamastan in Gaza die Chance auf einen palästinensischen Staat zunichte
gemacht hat, stört Hamas nicht. Denn sie will langfristig anstelle von
Israel ein islamisches Kalifat gründen und keinen von Diplomaten in der UNO
vertretenen Staat.


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