Filmkritik: Das „Herz von Jenin“

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Jerusalem, 12. Juli 2008 – Der neueste Film des vielfach preisgekrönten Tübinger Filmemachers Marcus Attila Vetter, „Herz von Jenin“, ist ein herzerweichender Dokufilm. Im November 2005 hatten israelische Soldaten den Befehl, auf jeden bewaffneten Palästinenser in Jenin im Westjordanland zu schießen. An der sogenannten „Pferdekreuzung“ gesellte sich der 12 Jahre alte Ahmad während eines Feuerwechsels zu einer Gruppe palästinensischer Kämpfer, so Presseberichte von damals. Er schwenkte eine Uzi-Maschinenpistole aus Plastik. Die Soldaten gingen kein Risiko ein und schossen aus 300 Metern Entfernung auf den Jungen. Der wird schwer verletzt ins Krankenhaus von Jenin getragen. Ein Onkel aus Umm el Fachem in Israel lässt seine Beziehungen spielen. Ein Helikopter der israelischen Armee fliegt den palästinensischen Jungen nach Haifa ins Rambam-Hospital. Nachdem jüdische Ärzte erst versuchten, Ahmad zu retten und zwei Tage später den klinischen Tod des Jungen feststellten, erklärt sich Vater Ismail Khatib bereit, dessen Organe, darunter auch das Herz, zu spenden. So rettet er das Leben eines drusischen Mädchens, eines Beduinenjungen, der Tochter ultraorthodoxer Juden und anderer Israelis, die nicht gefilmt werden wollten.
Im Jerusalemer Gedenkzentrum für Ministerpräsident Menachem Begin wurde der Film am Freitag Abend uraufgeführt. Im vollen Auditorium gab es stehenden Applaus.  Der Film zeigt, wie Ismail Khatib jene Kinder besucht, denen die Organe seines erschossenen Sohnes das Leben gerettet haben. Im Saal anwesend waren fast alle Teilnehmer des Films, der Vater und die Empfänger der Organspenden. Nur die ultraorthodox jüdische Familie konnte aus religiösen Gründen nicht teilnehmen, weil die Uraufführung auf den Sabbat gelegt worden war: eine anmaßende Rücksichtslosigkeit. Der Film ist authentisch, emotional aufgeladen und beeindruckend gut gemacht. Zwischen nachgestellten Szenen und Interviews mit den Betroffenen, bringt Vetter auch blitzartige Rückblicke auf palästinensische Terroranschläge, in Tel Aviv und im Park Hotel in Netanja im April 2002, sowie Szenen des darauffolgenden israelischen Einmarsches in palästinensische Städte. Zu Bildern der Verwüstung im Flüchtlingslager Jenin werden 59 tote Palästinenser erwähnt. Die dabei ebenso getöteten 23 israelischen Soldaten werden unterschlagen.
Ein wirklich guter Film, der gewiss viele Preise erhalten wird. Aber es ist gleichzeitig ein einseitiges propagandistisches Machwerk, dazu geeignet, beim deutschen Publikum antijüdische Gefühle zu schüren. Die einzigen im Film vorkommenden Juden sind die Levinsons, eine aus Amerika eingewanderte ultraorthodoxe Familie, deren Tochter Menucha eine Organspende erhielt. Der Vater macht im Film zunächst üble rassistische Äußerungen gegen Araber, für die er sich später entschuldigt. Dann sieht man ihn als unbeholfenen Gastgeber beim Besuch von Khatib. Ohne Kontext wird auch noch ein ausgeflippter orthodoxer Jude gezeigt, der zu lauter Musik auf offener Straße herumtanzt. Weder die Piloten des Helikopters noch die jüdischen Ärzte, die versuchten, Ahmads Leben zu retten, mutmaßlich ganz „normale“ Israelis, noch der heutige Ministerpräsident Olmert, der Khatib damals anrief, um sich für die Organspende zu bedanken, kommen im Film vor. Ansonsten sind Juden in dem Film nur Soldaten oder vermeintliche „Nudisten“ am nicht gezeigten Strand des Toten Meeres, wo vor Allem Deutsche eine Sonnenkur gegen ihre Psoriasiskrankheit machen.
Beim Empfang nach der Uraufführung behauptet Vetter, dass außer den rassistischen Levinsons keine „normalen“ Israelis mit der Geschichte befasst gewesen wären, was nachweislich falsch ist.
Vetter hat ein gutes Recht, den Vater des toten Ahmad, Ismail Khatib, zum Helden seines Films zu erheben. Doch warum unterschlägt Vetter Sprüche der Mutter Abla, die ihre Zustimmung zur Organspende auch als „Rache“ und „Teil des palästinensischen Widerstandes“ bezeichnet hatte. Und unerwähnt bleiben die viel häufigeren Fälle jüdischer Organspenden ermordeter Soldaten und Terroropfer an Palästinenser, „weil die nicht Teil meiner Geschichte waren“, wie Vetter gesteht. Ist es wirklich nur „sexy“, wenn Palästinenser für Juden spenden, während es „keine Story“ ist, wenn Juden für Palästinenser spenden? Wegen der Auslassungen und der einseitigen Darstellung, als gäbe es in Israel nur verrückte orthodoxe Juden, Nudisten oder Soldaten, während allein Araber „Menschen“ sind, verdient dieser gut und einfühlsam gedrehte Doku-Film keine Preise, sondern ernsthafte Rügen wegen unerträglicher subtiler Propaganda. Vetter muss vorgeworfen werden, nicht einmal den Versuch einer Ausgewogenheit in diesem emotional aufgeladenen Konflikt gemacht zu haben. Mal wieder dient eine aufrichtige Friedensbotschaft dazu, Hass zu schüren.

  • Dokument:
    Markus Vetter erwidert schriftlich auf die Einwände
    Lieber Herr Sahm,
    Vorweg. Als Dokumentarfilmer kann ich grundsätzlich nur mit dem Material arbeiten, das ich vor Ort drehe bzw. das ich als Archivmaterial bekommen kann. Da dieser Film in die Kinos kommt, haben wir uns außerdem entschieden, diesen Film ohne journalistischen Kommentar zu realisieren. Außerdem wollten wir nur mit Protagonisten drehen, die in Ihrer Handlung Wesentliches zu dieser Geschichte beigetragen haben. Das sind in meinen Augen, die Empfängerfamilien, die nicht entschieden haben anonym zu bleiben, der Krankenpfleger Raymund, der Ismael gefragt hat, die Organe zu spenden, der Mufti und Zbeidy, die Ismaels Entscheidung zugestimmt haben und Ismael und seine Familie selbst. Die Ärzte, die die Organtransplantation durchgeführt haben, aber nicht in erster Linie die Entscheidung Ismaels forciert haben, entschieden wir uns aus og. Gründen nicht als Protagonisten in den Film zu nehmen. Wir haben allerdings in der Vorrecherche mit ihnen gesprochen, um die Geschichte zu verstehen. Im Übrigen sind all diese Entscheidungen mit Leon Geller und unserer Cutterin gemeinsam getroffen worden. Ich kann Ihre Einwände und ihren Ärger verstehen, aber wir sind der Geschichte gefolgt. Ich denke auch, dass sich ein besseres Bild des Konflikts für den Zuschauer durch eine Vielzahl von Dokumentarfilmen ergibt und erst dadurch ein „ausgewogeneres“ Bild entstehen kann. 
    Zu Olmert habe ich die Einstellung, dass er für mich keinen Einfluss auf den Verlauf der Geschichte hatte und wir sowenig wie möglich politische Statements in einem Dokumentarfilm haben möchten. Dieses Gestaltungsmittel bleibt m.E eher dem journalistischen Bericht oder der Nachrichtensendung vorbehalten. 
    Zu der Premiere kann ich nur sagen, dass wir keinen Einfluss darauf hatten und dass der Termin vom Festival so gelegt worden ist. Wir haben im übrigen mit aller Kraft versucht, die Levinsons zur Premiere zu bekommen und hätten sie auch pünktlich zurückgebracht. Wir haben erst im letzten Moment erfahren, dass sie sich nach einer anfänglichen Zusage, letztendlich doch  entschlossen haben, dem Film fern zu bleiben. Im Übrigen rechne ich es den Levinsons hoch an, dass sie im Film mitgemacht haben und finde auch nicht, dass es Rassisten sind. Die Levinsons haben ihr Bild von den Palästinensern, das sich auch aus Vorurteilen zusammensetzen mag. Aber bei dem Treffen mit Ismael hat sich Jacob (Levinson) vielleicht ungeschickt, aber letztendlich doch sehr nett verhalten.
    Ich hoffe, ich konnte mit diesen Antworten wenigstens einige Ihrer Bedenken ausräumen. Ich kann Sie wie gesagt verstehen. Ich möchte abschließend sagen, dass wir alles getan haben, um die Levinsons als Menschen darzustellen – trotz der ungeschickten Aussage, die er getätigt hat, als während der Transplantation plötzlich Journalisten auftauchten und ihm das Mikro unter die Nase hielten.
    Herzliche Grüße
    Ihr Marcus Vetter

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