Jerusalem im Sommer

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Jerusalem, 29. August 2009 – „Zehn Maß Schönheit kamen auf die Erde herab. Jerusalem bekam davon neun Maß. Die übrige Welt eins. Zehn Maß Leiden kamen auf die Erde herab. Jerusalem bekam davon neun Maß.“ Der erste Satz dieses Spruches aus dem Talmud entsprechen dem Popsong von 1967, der fast zur Nationalhymne Israels geworden wäre: „Jerusalem von Gold“. Das romantische Lied spielt auf den Naturstein an, mit dem alle Häuser Jerusalems verputzt sind und der sie wie einen goldenen Feuerball leuchten lässt, wenn die Sonne untergeht.
Der zweite Satz gilt ganz gewiss dem Bau der Straßenbahn. Seit Jahren ist sogar die Jaffa Street, die Hauptverkehrsader von der historischen Altstadt zur Autobahn nach Tel Aviv aufgerissen und für den Straßenverkehr gesperrt. Für jede Besorgung im Stadtzentrum sollte man erst einmal eine gute Stunde im Stau auf den Nebenstraßen einplanen.
Im August leisten in Jerusalem vor allem Touristen echte Schwerstarbeit, wenn die Temperaturen tagsüber 35 Grad überschreiten. Bergauf, bergab, und im Basar der Altstadt treppauf und treppab, tippeln die Touristenherden hinter ihrem Leittier hinterher, dem Guide, erkennbar an einem hochgehaltenen bunten Schirm oder Fähnchen, wenn der sie von einer Heiligen Stätte zur nächsten scheucht. Echte Jerusalemer überlassen die Grabeskirche, den Panoramablick vom Ölberg und den Besuch auf dem Tempelberg im Sommer gerne den Touristen und Pilgern.
Wer nicht mit Zehntausenden anderen Israelis nach Antalya im Süden der Türkei geflohen ist und das nötige Kleingeld hat, zieht mit seinen Kinderscharen in den klimatisierten Konsumtempel in Malcha zu den Luxusgeschäften mit Markenartikeln oder geht zum Bierfestival im Unabhängigkeitspark. 
Doch das Schönste aller Vergnügen für den Israeli ist der „Mangal“. Dazu benötigt man einen Blechkasten und einen Sack Holzkohle, wie sie im Sommer beim Eingang der Supermärkte gestapelt sind. Passend dazu besorgt man sich aus dem Tiefkühlfach gefrorene Hühnerflügelchen, Keulen oder mit Wasser geimpftes „Steak“, das angeblich „auf der Zunge“ zergeht. Da in Salzlauge gekoschert, wäre es sonst zäh wie eine Schuhsohle. Mit diesem Werkzeug ausgerüstet geht es nun mit Kind und Kegel in den Sacherpark (nicht zu verwechseln mit der Wiener Sachertorte). Den nehmen im August ultraorthodoxe Familien mit mindestens 12 Kindern im Gefolge fast exklusiv für sich in Beschlag. Die Herren legen ihren großen Hut und den schwarzen Kaftan ab, während Muttern mit züchtiger Kopfbedeckung oder unförmiger Perücke, knöchellangem Kleid und Wollstrümpfen ihre Kinderchen auf einer mitgebrachten Decke ausbreiten. Die besten Plätze für das Grillvergnügen sind schnell belegt, an der Durchgangsstraße, wo der Verkehr an den Reihen falsch geparkter Autos entlang schleicht und mit Abgasen das Duftgemisch aus Holzkohlerauch und verbranntem Fleisch zusätzlich würzt.
„Warum fotografieren Sie hier“, fragt empört aber freundlich ein Orthodoxer. Damit sein Abbild nicht gestohlen werde, hatte er sich zuvor seinen schwarzen Hut vor das Gesicht gehalten. Wir erklären ihm, dass der ungewöhnliche Anblick so vieler orthodoxer Juden beim Picknick außerhalb ihres Ghettos Mea Schearim wert sei, dokumentiert zu werden. „Das ist ganz einfach“, sagt der junge Mann mit dem bleichen von Schläfenlocken gerahmten Gesicht und wild wachsendem Bärtchen. „Nur an drei Wochen im Jahr, zwischen dem Tischa Beav Fastentag und dem ersten Tag des Monats Elul machen unsere Toraschulen Urlaub. Es ist die einzige Zeit im Jahr, in der wir mit der ganzen Familie an die Sonne gehen dürfen.“ Die meisten orthodoxen Familien seien bitterarm, und der Sacherpark sei der einzige Vergnügungspark in Jerusalem, wo Familien keinen Eintritt zahlen müssten, wie etwa im biblischen Zoo.


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