Laudatio von Henryk M. Broder auf Marcel Reich-Ranicki

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Laudatio von Henryk M. Broder auf Marcel Reich-Ranicki

 

anläßlich der Verleihung der Ludwig-Börne-Medaille


„Die großen Katastrophen liegen noch vor uns“


Frankfurt/M. Paulskirche, 06.06.2010

 

Meine Damen und Herren, verehrter Marcel Reich-Ranicki, droga Pani Teofila, liebe Freunde des gesprochenen und geschriebenen Wortes:

Wenn man Worte in Honig verwandeln könnte, müssten wir alle mit klebrigen Fingern hier sitzen. Wir, die Konditoren des Kulturbetriebs, die wir heute den 90. Geburtstag unseres Ober-Konditors feiern. Wir haben uns auf dieses festliche Ereignis angemessen vorbereitet und seit Wochen alles gelesen, was über Sie, lieber Marcel Reich-Ranicki, gesagt und geschrieben wurde. Es war nur Gutes dabei. Es scheint, als wäre der 90. Geburtstag der „tipping point“, an dem Wasser in Wein, Missgunst in Zuneigung, Neid in Anteilnahme und Hass in Liebe umschlägt. Dass Sie ein „Papst“ sind, das wissen wir schon lange, was vor allem diejenigen unter uns mit Genugtuung erfüllt, die stolz darauf sind, dass auch Jesus ein Jude war. Nun aber werden Sie zu Lebzeiten heiliggesprochen, und tatsächlich – wenn man genau hinguckt, sieht man einen leuchtenden Kreis über ihrem Haupt. So ist das eben, wenn man lange genug durchhält, wird von man von einem „bad boy“ zu „everybody’s darling“ befördert.

Ich sage das nicht, um ein paar tropfen Absinth in ein Fass Dom Pérignon zu kippen, ich sage es, weil ich überzeugt bin, dass auch Heilige das Recht haben, wie Menschen behandelt zu werden. Halunken übrigens ebenso. Ich erinnere mich an einen wunderbaren Satz von Ihnen, den Sie gesagt haben, als Sie um Ihre Meinung über den Film „Der Untergang“ gefragt wurden, speziell darüber, ob es richtig wäre, Hitler nicht als Monster, sondern als einen Menschen zu zeigen. „Natürlich war Hitler ein Mensch“, polterten Sie zurück, „was soll er denn sonst gewesen sein, etwa ein Elefant?“

Das sind Momente, in denen man aufspringen und Sie umarmen möchte, wohl wissend, dass Sie solche Sympathiekundgebungen nicht mögen. Und während ich hier, vor Kühnheit zitternd, vor Ihnen stehe und um die richtigen Worte ringe, sind Sie vermutlich schon weiter und überlegen, wie Sie diese Veranstaltung verreißen würden – wenn Sie nicht ihr Objekt wären. Also lassen Sie mich schnell sagen, warum ich Sie verehre: weil Sie zwar ein Papst, aber wie alle Menschen fehlbar sind.

Ich kann mich noch gut an einen kleinen Skandal erinnern, als ein junger Mann, mit dessen Vater Sie einmal befreundet waren, sich daran machte, Ihre Vergangenheit einer Prüfung zu unterziehen. Er wollte wissen, ob Sie sich nach dem Kriege so verhalten hatten, wie man es von einem Überlebenden des Holocaust erwarten sollte, ob Sie also durch die Leiden geläutert worden waren wie ein Pilger am Ende des Jakobsweges. Hinter dem Bemühen steckte nichts als die Empörung darüber, dass Sie überhaupt überlebt hatten und, statt demütig in einer dunklen Ecke zu sitzen und wie Hiob mit Gott zu hadern, lieber im Rampenlicht der Öffentlichkeit Ihre Runden drehten: frech, laut und mit einer unbändigen Freude am eigenen Witz.

Was der junge Mann im Laufe seiner Recherche herausfand, war so dünn und geschmacklos wie eine Wassersuppe, reichte aber, um das deutsche Feuilleton in den Zustand höchster Erregung zu versetzen. Hatte es mit der Entnazifizierung der eigenen Väter nach dem Kriege nicht immer geklappt, so sollte wenigstens an einem polnischen Juden und ehemaligen Kommunisten retrospektiv ein moralisches Exempel statuiert werden. Zu dieser Zeit war übrigens noch nicht bekannt, dass ein großer deutscher Dichter ein kurzes Gastspiel bei der Waffen-SS gegeben hatte und einige wichtige Intellektuelle, ohne es zu wissen oder gar gegen ihren Willen, der NSDAP beigetreten waren.

Ich schrieb damals eine Geschichte über die Geschichte, die – sinngemäß – mit den Worten endete: „Marcel Reich-Ranicki meint, in der deutschen Literatur zu leben. Nun ist er eines Besseren belehrt worden. Er lebt in Deutschland.“

Sie waren damals eine Weile broiges mit mir, beleidigt und gekränkt, weil ich das ausgesprochen hatte, was Sie ohnehin wussten: Man kann in der deutschen Literatur zu Hause sein, aber man kann nicht so tun, als würde man in der deutschen Literatur leben. Zum Leben gehört mehr als die Kenntnis der literarischen Produktion eines Landes oder einer Gesellschaft. Wenn Sie auf der Straße als „Saujud“ angepöbelt werden, werden Sie gewiss nicht stehenbleiben und den Pöbler fragen: „Entschuldigen Sie bitte, lieber Freund, haben Sie ‚Nathan der Weise‘ nicht gelesen?“

Der Satz: „Ich lebe nicht in Deutschland, sondern in der deutschen Literatur“, verbreitet den gleichen Charme der Naivität wie die „Atomwaffenfreie Zone“-Sticker, die an Wohnungstüren kleben, hinter denen Menschen leben, die Ökostrom beziehen, der aus Atomkraft generiert wird.

Heute, aus dem Abstand von über 15 Jahren, würde ich zufügen: Sie und ich, wir alle leben in einem Deutschland, in dem tote Juden über alles geliebt, während die überlebenden und ihre Nachkommen als Störer empfunden werden. Dabei stimmt es nicht, dass die Deutschen vergessen und nicht erinnert werden wollen. Das Gegenteil ist der Fall. Sie können von der Vergangenheit nicht genug bekommen.

Die „Kollektivscham“, mit der man sich zu der Zeit von Adenauer, Brandt und Kohl geschmückt hat, ist längst einem „Sündenstolz“ gewichen, der fröhlich mit seiner grausamen Geschichte kokettiert, um daraus moralisches Kapital zu schlagen. „Gerade wir als Deutsche…“ ist die Floskel, mit der fast alle Reden anfangen, die bei Auschwitz einsetzen und im Nahen Osten aufhören. „Gerade wir als Deutsche“ sind dazu prädestiniert, andere zu warnen, unsere Fehler zu wiederholen. „Gerade wir als Deutsche“ wissen, dass ein Krieg keine Konflikte löst und Gewalt immer neue Gewalt erzeugt. „Gerade wir als Deutsche“ haben aus der Vergangenheit gelernt, wenn auch nicht, dass man das Böse bekämpfen, sondern dass man überhaupt nicht kämpfen soll.

2. Teil: „Hört auf mit diesem Quatsch. Ich war im Warschauer Ghetto“

Lieber, verehrter Jubilar: Noch immer vor Kühnheit zitternd, möchte ich Sie etwas fragen. Sie waren doch im Warschauer Ghetto. Sie haben in Ihren Erinnerungen beschrieben, wie es in diesem Vorzimmer zur Hölle zuging. Sie haben bei Ihren Lesungen die Menschen zu Tränen gerührt.

Bekommen Sie nicht eine Gänsehaut, wenn im Zusammenhang mit den Lebensbedingungen in Gaza von „Zuständen wie im Warschauer Ghetto“ geredet wird? Packt Sie da nicht die Wut und das Verlangen, Ihr Zuhause in der deutschen Literatur für einen Moment zu verlassen und sich draußen auf der Straße umzusehen, wo nicht die Freunde von Heine und Hölderlin unter den Linden flanieren, sondern die Anhänger von Hamas und Hisbollah „Zionisten raus aus Palästina!“ rufen? Klingt das in Ihren Ohren nicht so wie „Juden raus nach Palästina!“ – nur eben andersrum?

Verstehen Sie mich bitte richtig. Ich frage nur. Ich mache Ihnen keine Vorhaltungen. Jeder lebt für sich allein, der eine in der deutschen Literatur, der andere bei Starbucks. Aber Sie sind doch wer. Neunfacher Ehrendoktor – oder habe ich mich verzählt? Träger des Thomas-Mann-Preises, des Bambi-Kulturpreises, des Ludwig-Börne-Preises, des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt am Main; Sie haben die Goldene Kamera und das große Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland erhalten; der Lehrstuhl für deutsche Literatur an der Universität von Tel Aviv trägt Ihren Namen. Dieses Jahr sind Sie zum Offizier im Orden von Oranien-Nassau ernannt worden.

Und vor zwei Jahren hätten Sie um ein Haar den deutschen Fernsehpreis bekommen. Da können nicht einmal Iris Berben und Peter Sloterdijk mithalten. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie auf den Tisch geschlagen und „grässlich!“ gerufen hätten, wie Sie es so oft im „Literarischen Quartett“ getan haben, oder „Unsinn!“ und vielleicht dazugefügt hätten: „Hört auf mit diesem Quatsch. Ich war im Warschauer Ghetto. Ich weiß, wie es da zuging. Verglichen mit dem Warschauer Ghetto ist Gaza ein Club Med.“

Meine Damen und Herren, liebe Freunde: Wenn mich meine Antennen nicht täuschen, denken einige von Ihnen, ich sei vom Thema abgewichen. Das bin ich nicht. Wir ehren heute Marcel Reich-Ranicki, den Ludwig Börne unserer Tage. Und wenn wir nicht nur Marcel Reich-Ranicki, sondern auch Ludwig Börne gerecht werden wollen, dann kann diese Ehrung nicht in einem luftleeren Raum, quasi in einem literarischen Bhagwan, stattfinden. Es sind schon genug Essays über die deutsch-jüdische Symbiose und den jüdischen Beitrag zur deutschen Kultur geschrieben worden.

Jetzt wäre es an der Zeit, dass wir uns fragen, warum wir eine Wiederkehr der jüdischen Frage erleben, diesmal in Form des ungelösten Nahost-Konflikts. Warum nach einem Anschlag auf die Synagoge in Worms Ministerpräsident Kurt Beck von einer „Grenzüberschreitung“ spricht, die Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, „Wehret den Anfängen!“ ruft und alle miteinander einen Bekennerbrief ignorieren, in dem es zwar in holperigem Deutsch, aber mit aller Klarheit heißt: „Sobald ihr nicht den Palästinensern Ruhe gibt, geben wir euch keine Ruhe.“

Wir müssen uns fragen, ob es zu den Aufgaben und Pflichten von Abgeordneten des Bundestages gehört, auf einem Schiff nach Gaza zu dampfen, das von einer islamistischen Organisation gechartert wurde.

Wenn wir nicht über die fortschreitende Dämonisierung und Delegitimierung von Israel reden, werden wir in der Paulskirche bald eine Gedenkfeier für die Opfer der zweiten Endlösung abhalten können. Und für die Literaturinteressierten unter Ihnen wird es Seminare geben, in denen die Arbeiten von Amos Oz, A. B. Jehoschua und David Grossmann durchgenommen werden, so wie heute in Seminaren die Werke von Isaak Baschevis Singer, Bernard Malamud und Isaak Babel behandelt werden – als literarische Testamente einer untergegangenen Welt.

Der 90. Geburtstag eines Zeugen des 20. Jahrhunderts ist genau der richtige Anlass, um einen Moment innezuhalten und sich zu fragen: Könnte es sein, dass die großen Katastrophen nicht hinter, sondern vor uns liegen? Wir sind damit beschäftigt, geschehene Desaster zu analysieren und auszuwerten, statt potentielle zu erkennen und im Ansatz zu verhindern. Wir trauen uns zu, den Anstieg der Welttemperatur auf zwei Grad zu begrenzen, aber wir sind nicht in der Lage, Iran von seinen Atomplänen abzubringen.

In Nordrhein-Westfalen soll demnächst eine Stiftung gegründet werden, deren Initiatoren es sich vorgenommen haben, jedem Schüler in NRW und später in der ganzen Republik eine Studienreise nach Auschwitz zu ermöglichen. Damit sollen sie gegen antisemitisches Gedankengut immunisiert werden. Die Idee ist nicht schlecht, aber nicht ganz zu Ende gedacht. Sie basiert auf der Überlegung, dass ein zweites Auschwitz verhindert werden muss. In diesem Falle müssten die Schüler aber nicht nach Oswiecim in Polen sondern nach Afula, Metulla, Kfar Saba und Sderot geschickt werden. Der passende Name für das Projekt wäre: „Besuchen Sie Israel, solange es noch existiert.“

Verehrter Marcel Reich-Ranicki, droga Pani Teofila, verzeihen Sie mir, dass ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, über ein Thema zu sprechen, das mir wie kein anderes am Herzen liegt. Zwischen Ihren Erfahrungen in der Vergangenheit und der Zukunft Israels gibt es eine Verbindung: Es wäre Ihnen einiges erspart geblieben, wenn es diesen Staat schon vor 70 Jahren gegeben hätte. Ihr Leben wäre weniger ereignisreich verlaufen, Ihre Erinnerungen wären unter dem Titel „Mein Leben im Kibbuz“ erschienen, es wäre alles nicht so spektakulär, dafür aber bekömmlicher gewesen.

Ich verneige mich vor Ihrem Leben.

Bleiben Sie gesund. Bleiben Sie stark, bleiben Sie böse.

Vor allem aber: Bleiben Sie!

 

 


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