Al-Jazeera, Ägypten und erster Entwurf 2.0 der Geschichte
HonestReporting Media BackSpin, 1. Februar 2011
Vorgestern äußerte sich unser Kollege Alex Margolin zur Rolle von Facebook und Twitter bei den Protesten in Ägypten. Es steht außer Zweifel, dass die sozialen Medien dabei eine Schlüsselrolle spielen. Aber es gibt eine Facette, die einer genaueren Überprüfung bedarf.
Die Rolle der Medien, speziell die von Al-Jazeera.
Professor Marc Lynch von der George Washington University würde sie nicht als „Twitter-Revolution” bezeichnen, zutreffender aber als „Neue herkömmliche Medienrevolution”:
Ich gehe davon aus, dass Analytiker nicht von Auswirkungen der neuen Medien als einer Entweder-oder-Prämisse „Twitter gegen Al Jazeera” ausgehen, sondern stattdessen an neue Medien denken (Twitter, Facebook, YouTube, SMS, usw.) und Satellitenfernsehen, das insgesamt eine komplexe und mächtige Medienlandschaft hervorbringt. Ohne die neuen sozialen Medien wären die eindrucksvollen Bilder der tunesischen Demonstranten niemals der erstickenden Unterdrückung des Ben-Ali-Regimes entgangen – aber es war die Ausstrahlung dieser Videos auf Al Jazeera, selbst nachdem deren Büro in ihrer Arbeit strikt behindert wurde, das viele jener Bilder einem großen arabischen Publikum zugänglich machte und sogar vielen Tunesiern, die anders nicht realisiert haben, was in ihrem Land abging…..
Al Jazeera und das neue mediale Ökosystem verbreiteten nicht nur Informationen – sie erleichterten die Rahmenberichterstattung der Ereignisse und eine robuste öffentliche Debatte über deren Bedeutung. Ereignisse selbst haben keine Aussagekraft. Damit sie [aber] eine politische Bedeutung gewinnen, müssen sie interpretiert, in einem bestimmten Zusammenhang gestellt und mit Aussagekraft gefüllt werden. Die Araber selbst sahen diese Ereignisse sehr bald als Teil einer allgemein narrativen arabischen Darstellung von Neuerung und volksgeleitetem Protest – die „Al Jazeera Geschichte” einer arabischen Öffentlichkeit, die gleichermaßen die arabische Regime und die US-Außenpolitik herausforderte.
Ereignisse in Tunesien hatten Bedeutung für Jordanien, für den Libanon, für den Jemen, und für Ägypten deshalb, weil sie innerhalb dieser arabischen Geschichtsdeutung zusammengefasst und gedeutet wurden.
In Kairo gibt es jede Menge Journalisten, die für die englischsprachige Welt berichten. Al-Jazeera ist aber anders. Er sendet auf Arabisch und genießt einen Vertrauensvorschuss – ob verdient oder nicht – zusammen mit dem sprichwörtlichen arabischen Mann auf der Straße. Mubarak wusste, dass eine Nachrichtensperre vergeblich war, aber er kappte Al-Jazeera.
Warum ich das heraushebe?
Vermutlich erkannte Mubarak – nicht gut genug und zu spät – was sich Al-Jazeera ausgedacht hatte. Was wir gerne als „ersten Entwurf der Geschichte” betrachten, kann nicht mehr als „Entwurf” klassifiziert werden. Er generiert mehr zu einer wechselseitigen Verschmelzung professioneller „News”-Berichterstattung mit Verbuchungsstatus, Fotos, Videos, Ansichten etc. Doch es steckt mehr dahinter: Al-Jazeera und der Protest haben einen multiplizierenden Effekt, mit hineinwirkenden Informationen auf die jeweiligen Gesellschaften, und von dort aus auf die arabische Welt. In Real-Time – nicht weniger.
Al-Jazeera hatte Erfolg mit ihrem Anschluss an die Protestbewegung bei der Berichterstattung in Sachen „erster Entwurf der Geschichte 2.0″, die Mubaraks Geschichts-Einmaleins bedeutet.
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