Gilad Shalit – ein Phänomen der besonderen Art

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Jerusalem, 12. Oktober 2011 – Die Nachricht der bevorstehenden Freilassung des vor über fünf Jahren von der Hamasorganisation in den Gazastreifen entführten Soldaten Gilad Shalit hat in Israel gemischte Gefühle ausgelöst: Freude über die Rettung des Soldaten, Angst vor weiteren Geiselnahmen, Furcht vor neuen Terroranschlägen und moralische wie politische Bedenken wegen der Freilassung von 1027 palästinensischen Gefangenen. Einen Juden aus der Geiselhaft zu befreien und dafür fast jeden Preis zu zahlen, ist ein tief-religiöses Gebot, im Mittelalter in Deutschland entstanden, als Fürsten namhafte Juden entführten, um deren Gemeinde zu hohen Erlöszahlungen zu erpressen. Die Kampagne zur Freilassung von Gilad Schalit war deshalb eine Massenbewegung mit Protestmärschen und Demonstrationen, wie sie wohl in keinem anderen Land denkbar wäre. Die landesweiten Kundgebungen richteten sich jedoch nicht gegen die Geiselnehmer der Hamas, sondern fast ausschließlich gegen den eigenen Regierungschef, erst Ehud Olmert und dann Benjamin Netanjahu. Ihnen wurde vorgeworfen, „nicht genug“ zu tun, obgleich sich die Politiker, Militärs, Geheimdienst und Vermittler aus verschiedenen Ländern ständig mit dem Fall beschäftigten.
Diese innerisraelischen Proteste waren für die Hamas das Zeichen, den Preis für Shalit immer höher zu schrauben und immer mehr Gefangene mit viel Blut an den Händen im Tausch für den einen Soldaten zu fordern. Es gab jahrelange Verhandlungen unter Beteiligung Deutschlands, Ägyptens und nach Angaben des Hamaschefs Chaled Maschal sogar der Türkei und Syriens. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy engagierte sich persönlich, weil Shalit auch Franzose ist.
Unter den 1027 Gefangenen sind 280 Palästinenser mit mehrfachen lebenslänglichen Haftstrafen wegen Mordes. Unter 300 Frauen, die freikommen sollen, waren einige an besonders denkwürdigen Terroranschlägen beteiligt. 200 der Freigelassenen sollen deportiert werden, in den Gazastreifen, nach Norwegen und Schweden.
Marwan Barghouti, wegen fünffachen Mordes verurteilt, wird nicht freigelassen. Er gilt als der populärste Palästinenser und als potentieller Nachfolger von Arafat und Abbas. Auch Arafats ehemaliger Vertrauter, Ahmed Saadat, der Waffenschmuggel von Iran in die palästinensischen Gebiete organisiert hatte, wird weiter seine Strafe absitzen. Hamas-Chef Maschal kündigte im syrischen Staatsfernsehen weitere Entführungen israelischer Soldaten und Zivilisten an, um alle übrigen 8000 arabischen Gefangenen aus israelischen Gefängnissen freizupressen.
Gegen den hohen Preis äußerten sich Opfer von Terroranschlägen und Angehörige, wie die überlebende Tochter der holländischen Familie Schijveschuurder. Bei dem Anschlag auf die Pizzaria Sbarro am 9. August 2001 verlor sie ihre Eltern und 2, 4 und 12 Jahre alten Geschwister. Die damals 20 Jahre alte palästinensische Studentin Ahlam Tamimi hatte als „jüdische Touristin“ verkleidet den Selbstmordattentäter zu dem Restaurant geführt. Sie wird trotz 16-facher lebenslänglicher Haftstrafe freikommen, obgleich sie keine Reue zeigt und Israels Existenz nicht anerkennen will.  Der Bombenbauer Abdallah Barghouti mit 67 Menschenleben auf dem Gewissen, darunter auch jener Familie Schijveschuurder, wird nicht frei kommen.
Am Wochenende wird Staatspräsident Schimon Peres 1027 Begnadigungen unterschreiben.
Die massenhafte Freilassung von Mördern wirft in Israel moralische und politische Bedenken auf. Der rechtstaatliche Grundsatz, Terroristen und Mörder zur Rechenschaft zu ziehen, wird außer Kraft gesetzt. Israels Forderung an alle Länder der Welt sowie an die palästinensische Autonomiebehörde, Terror zu bekämpfen und Terroristen zu bestrafen, verliert Glaubwürdigkeit.
Politisch problematisch ist das abgeschlossene „Geschäft“ mit einer von der internationalen Gemeinschaft  definierten „Terror-Organisation“. Für die Hamas ist das ein großer „Sieg“ mit erheblichem Schaden für das Ansehen von Präsident Mahmoud Abbas und der Autonomiebehörde in Ramallah. Terror zahlt sich eher aus denn Kooperation, Dialog und Friedensbereitschaft der „gemäßigten“ Fatah-Partei.
Israels Regierungen standen nicht zum ersten Mal vor einem schweren Dilemma. Frühere Gefangenenaustausche haben am Hunderten Israelis das Leben gekostet, weil viele der Freigelassenen sich erneut an Anschlägen beteiligten. Andererseits gilt in Israel der Grundsatz, dass jeder Soldat gewiss sein müsse, von seinem Staat aus Notlagen errettet zu werden. Das gilt als das wahre Geheimnis der hohen Kampfmoral und der Bereitschaft, dafür zur Not das eigene Leben zu opfern. 

(C) Ulrich W. Sahm


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