Vor und während der European Maccabi Games 2015 (EMG) wurde viel über die Sicherheit der Sportler_innen und die Warnung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin gesprochen, in der Umgebung der Unterbringung der Sportler_innen, dem Neuköllner Hotel Estrel, keine Kippa zu tragen.
Wir ziehen mit dieser Auswertung eine vorläufige Bilanz und veröffentlichen die uns bekannt gewordenen Vorfälle bzw. Reaktionen aus der Bevölkerung. Datengrundlage sind Gespräche mit Volontär_innen der EMG und dem Berliner LKA, ein Bericht des Online Portals „{berlin:street}”, sowie uns über das Meldeformular report-antisemitism.de gemeldete Vorfälle. Ergänzend dazu haben wir die sozialen Netzwerke hinsichtlich der Thematisierung der EMG beobachtet und den Wissenschaftler Matthias Jacob Becker gebeten, eine Einschätzung bezüglich der Kommentare unter Online-Artikeln vorzunehmen.
Vorfälle vor allem im Umfeld der Unterbringung der Sportler_innen
Insgesamt haben wir Kenntnis von neun Vorfällen bzw. negativen Reaktionen aus der Bevölkerung mit einem unmittelbaren Bezug zu den EMG, welche vom 27. Juli bis 04. August in Berlin stattfanden. Darüber hinaus kam es am 2. August zu einem antisemitischen Angriff in Charlottenburg, und am 29. Juli zu einer Sachbeschädigung in Friedrichshain, bei denen kein unmittelbarer Zusammenhang zu den Spielen festgestellt werden konnte.
· Die Berliner Polizei hat vier antisemitische Vorfälle in Neukölln rund um das Hotel Estrel registriert, welche von Beschimpfungen des Sicherheitspersonals, bis hin zu einem öffentlich gewordenen Angriff auf sechs Mitglieder der Chabad Lubawitsch Strömung reichten. Die Betroffenen des Angriffs wurden am Abend des 30. Juli am S-Bahnhof Sonnenallee mit Schottersteinen beworfen und verbal angepöbelt. Neben Beleidigungen die sich gegen die Betroffenen als gläubige Juden richteten, wurde auch „Kill Israel” gerufen.
· Ein Sportler äußerte bei der „Closing Ceremony” gegenüber dem Deutschlandfunk, dass er beobachtet hätte, wie aus zwei am Hotel vorbeifahrenden Autos der Hitler-Gruß in Richtung Hotel gezeigt wurde.
· Eine Volontärin der EMG berichtete uns persönlich, dass eine Gruppe von Sportler_innen am 3. August in der Innenstadt verbal angefeindet worden sei. Sie seien durch ihre Kleidung und ihren Akkreditierungs-Pass als Sportler_innen der EMG erkennbar gewesen.
· Ein Taxifahrer schilderte am 3. August auf dem Online-Portal „berlin:street”, dass seine Schweizer Fahrgäste von einem anderen Taxifahrer gefragt worden seien, ob sie auch „Judensportler” seien. Als sie das bejahten wurde er extrem unfreundlich und aggressiv.
Während der Fahrt telefonierte er auf Arabisch und schaute dabei immer wieder zu den beiden. Das Ehepaar fühlte sich von dem Mann bedroht. Noch am selben Tag sprach der Taxifahrer mit seinen Kollegen am Ostbahnhof über die Schilderungen seiner Fahrgäste.
Mehrere seiner Kolleg_innen begannen daraufhin, über die „Judenspiele” zu lästern und meinten, sie würden garantiert niemanden „von denen” mitnehmen.
· Über unser Meldeformular erreichte uns am Vormittag des 2. August die Beobachtung, dass kurz zuvor ein älteres Ehepaar im Bus M41 beim Passieren des Estrel Hotels sich darüber beschwerte, dass die „Juden schon wieder so viel Geld kosten, weil sie so viel Sicherheit brauchen” würden.
Die Anzahl von neun uns bekannt gewordenen Vorfällen bzw. negativen Reaktionen aus der Bevölkerung bleibt erfreulicherweise deutlich hinter den Befürchtungen kritischer Beobachter_innen im Vorfeld der Spiele zurück. Dazu hat sicherlich das umfangreiche Sicherheitskonzept der Berliner Polizei ganz wesentlich beigetragen. Allerdings lassen die Beschreibungen des Taxifahrers und die eher zufällige Wahrnehmung aus dem Bus in Neukölln den Rückschluss zu, dass die Dunkelziffer nicht gemeldeter, vor allem strafrechtlich nicht-relevanter Vorfälle und antisemitischer Äußerungen deutlich höher liegt.
Im Netz wird aus jeder Perspektive gewettert
Im Internet nahmen wir eine rege Beschäftigung aus den unterschiedlichsten politischen Spektren mit der Austragung der EMG in Berlin wahr.
Zwei offen antisemitischen Thematisierungen durch das rechtsextreme Internet-Portal „Altermedia” am 25. und 29. Juli beinhalteten Verherrlichung und Relativierung der Schoa, sowie Aspekte der Täter-Opfer-Umkehr, welche Juden und Jüdinnen für die Schoa mitverantwortlich machten.
Neben diesen gezielten antisemitischen Provokationen aus der rechtsextremen Szene, beschäftigte die Webgemeinschaft auch ein Tweet der Taz-Journalistin Silke Burmester, die fragte, was „jüdischer Sport” denn sei und sich selbst antwortete: „Hakenkreuzweitwurf?”. Ähnlich zu bewerten sind die Beiträge von Edmund Piper, einem Berliner Künstler, der 2013 für den Bundesvorstand der Piraten-Partei kandidierte. Aus seiner Sicht hätte der jüdische Charakter der EMG etwas „rassistisches”, ja sogar „rechtsradikales”. Am 29. Juli twitterte er: „Makkabi = GroßjüdischeFestspiele, Nicht-Juden bitte draußen bleiben? Was soll das? Hört sich irgendwie rechtsradikal an.” Das Abstreiten des Rechts auf Selbstorganisation und Selbstbezeichnung gesellschaftlicher Minderheiten mit der Begründung, sie würden dadurch selber ausgrenzen, ist ein gängiger Ausdruck des Versuchs, die jeweilige Minderheiten-Gruppe und den gesamtgesellschaftlichen Antisemitismus unsichtbar zu machen.
Auch aus anti-zionistischen Kreisen wurden die EMG immer wieder aufgegriffen, wobei hier die Israel-Feindschaft, wie schon im vergangenen Sommer 2014 unmittelbar auf die jüdischen Sportler_innen aus aller Welt übertragen wurde. Exemplarisch für dieses Spektrum sei hier Evelyn Hecht-Galinski erwähnt, die regelmäßig Artikel der Jüdischen Allgemeinen Zeitung über die EMG auf ihrer Facebook-Seite kommentierte. Am 4. August schrieb sie: „Jüdischer Stolz worauf? Auf jüdischen Terror und Besatzung? Jüdische Scham wäre eher angebracht! Anstatt Partys zu feiern, sollten sie einen Trauermarsch für die palästinensischen Opfer veranstalten!”.
Antisemitismus im Querschnitt – Online-Kommentare der Qualitätsmedien
Matthias Jacob Becker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sprache und Kommunikation der TU Berlin und arbeitet in einem Forschungsprojekt, das sich mit „Antisemitismus im Internet” befasst. Wir baten ihn, um eine Einschätzung bezüglich der Thematisierung der EMG in den Online-Kommentaren der Qualitätsmedien.
Seine Beobachtungen zeigten „(…)dass Web-User bei der Thematisierung der Maccabi Games immer wieder einen Bezug zum Nahostkonflikt herstellen. Indem dieser mit Worten wie
>Völkermord an Muslimen< perspektiviert wird, sprechen die User den
>Veranstaltern das Recht ab,
Spiele in Deutschland abzuhalten. Desweiteren reagiert die Web Community immer wieder mit Unverständnis auf die Tatsache, dass eine jüdische Sportveranstaltung stattfindet. Man argumentiert, dass es bei derlei Veranstaltungen doch um ein Engagement gegen Ausgrenzung gehe, wobei eine Trennung nach Religion kontraproduktiv sei und eher einen jüdischen Sonderstatus bestärke.”
Für beide von Becker angesprochenen Aspekte finden sich unzählige Belege. Unsere eigenen Beobachtungen haben gezeigt, dass erfreulicher Weise andere Web-User meistens derlei Kommentare hinterfragen oder dagegen argumentieren.
Fazit
Die überwiegend positiven Reaktionen von Politik und Medien auf die Austragung der European Maccabi Games 2015 in Berlin haben gezeigt, dass jüdisches Leben ein gewünschter und fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft ist. Ungeachtet dieser begrüßenswerten Erkenntnis sind der
Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) neun Vorfälle bzw. negative Reaktionen aus der Bevölkerung bekannt geworden, bei denen von einem antisemitischen Motiv auszugehen ist. Die kontroversen Reaktionen im Internet, vor allem die Online-Kommentare bei den Qualitätsmedien deuten darauf hin, dass die Haltung der offiziellen Politik gegenüber den EMG, nur von einem Teil der Web-User geteilt wird.
Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS)
c/o Verein für Demokratische Kultur in Berlin e.V. (VDK)
Chausseestraße 29 | 10115 Berlin
Tel: 0176-38078033 | Fax: 030/240 45 319
benjamin.steinitz@vdk-berlin.de
www.facebook.com/AntisemitismusRechercheBerlin
www.report-antisemitism.de
www.vdk-berlin.de
Leave a Reply
You must belogged in to post a comment.