Jerusalem, 4. September 2016 – Ein Machtkampf zwischen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und seinem Verkehrsminister Israel Katz hat das Land in ein präzedenzloses Verkehrschaos gestürzt. Über 250.000 Israelis stecken fest in einem Riesenstau vor allem zwischen Tel Aviv und Haifa. Andere müssen auf Hunderte Busse umsteigen, weil die Eisenbahn stillgelegt ist.
Der Anlass ist nichtig und lächerlich. Fromme Journalisten entdeckten, dass bei Bauarbeiten der neuen U-Bahn in Tel Aviv am Sabbat vor einer Woche eine Drohne eingesetzt worden war, um die Arbeiten zu dokumentieren. Das sei ein Verstoß gegen die Ruhegesetze, reklamierten die frommen Koalitionspartner. Die umfangreichen Bauarbeiten selbst wurden nicht beanstandet, denn seit Jahrzehnten akzeptieren die orthodoxen Parteien, dass Infrastruktur-Arbeiten sogar am heiligen Ruhetag durchgeführt werden dürfen. Das Judentum anerkennt grundsätzlich, dass Lebensrettung jegliche Beschränkungen am wöchentlichen Ruhetag außer Kraft setzt. Da darf dann auch Auto gefahren werden und selbstverständlich dürfen Armee und Polizei am Sabbat alle Tätigkeiten ausüben.
Doch das Dokumentieren der Arbeiten mit einer Drohne wurde als unnötige Verletzung der biblischen Ruhegesetze dargestellt. So sahen sich die orthodoxen Parteiführer gezwungen, Netanjahu mit einer Regierungskrise zu drohen. Da aber auch die orthodoxen Parteien nicht wirklich an einem Sturz der Regierung interessiert und die Bauarbeiten als solche akzeptiert sind, konnten sich Netanjahu und seine frommen Partner einigen.
Jetzt hätte jeder ruhig weiterarbeiten können, aber dann kündigte der durchaus erfolgreiche und starke Politiker des Likud, Verkehrsminister Israel Katz, öffentlich eine Fortsetzung der Infrastrukturarbeiten an. Obgleich die ohnehin genehmigt waren, mussten darauf die orthodoxen Parteien erneut Druck ausüben, weil die stillschweigenden Abkommen nun nicht mehr galten.
Zehn Minuten vor Beginn des Sabbat am Freitagabend verfügte daraufhin der Regierungschef einen totalen Baustopp bei der Bahn. Ob er damit die frommen Koalitionspartner beschwichtigen oder eher seinem Verkehrsminister einen „Schlag“ versetzen wollte, ist eine inzwischen heiß diskutierte politische Frage.
Tatsache ist, dass Bauarbeiter einige Gleise nördlich von Tel Aviv herausgerissen hatten, um sie während des Sabbat zu erneuern. Wegen der plötzlichen Verfügung Netanjahus konnten bis Sonntagabend keine Eisenbahnen mehr verkehren. Das traf eine Viertel Million Israelis und besonders Soldaten, die übers Wochenende nach Hause gefahren waren und nach dem Sabbat wieder rechtzeitig bei ihren Militärstützpunkten antreten mussten.
Zwischen Katz und Netanjahu wurde eine riesige „Vertrauenskrise“ aufgebaut, denn beide beschuldigten sich gegenseitig, das Chaos verursacht zu haben. Die Frommen und ihre Sabbatgesetze spielen keine Rolle mehr, zumal das Chaos zu einer viel umfangreicheren Verletzung der Sabbatgesetze geführt hatte. Denn nun mussten sich Tausende Israelis am Sabbat in ihre Autos setzen, um ihre Kinder, die Soldaten, rechtzeitig zu ihren Stützpunkten zu bringen. Die Busgesellschaften mussten am Sabbat Hunderte Busse und Ordner für Bahn-Ersatzverkehr bereitstellen.
Katz und Netanjahu tragen schon längere Zeit einen innerparteilichen Machtkampf aus. Katz erweist sich zudem als außerordentlich erfolgreicher Verkehrsminister. Er ließ mit großen Budgets die alte Hidschaz-Bahn wiedererstehen, indem er nach fast 70 Jahren die Gleise von Haifa nach Beth Schean nahe der Grenze zu Jordanien neu verlegen ließ. Bis 1948 konnte man von Beirut über Haifa nach Damaskus und bis nach Mekka reisen. Jetzt wird der jordanische Warenexport über die Eisenbahn bis Haifa und von dort nach Europa abgewickelt werden. Katz hat auch die elektrifizierte Schnellstrecke von Tel Aviv nach Jerusalem bauen lassen. Ab 2017 wird sie die Fahrtzeit von der Hauptstadt zum Ben Gurion Flughafen und bis nach Tel Aviv von über einer Stunde im Bus auf nur noch 25 Minuten im Zug reduzieren. Zudem hat Katz innerhalb der regierenden Likudpartei eine Machtbasis ausgebaut, die dem Premierminister und Likud-Parteichef schon lange ein Dorn im Auge ist. Deshalb wartete Netanjahu auf die Gelegenheit, Katz eine Niederlage beizufügen. Ähnlich ist Netanjahu schon mehrfach vorgegangen, um „starke Männer“ in seiner Umgebung auszuschalten, ohne sie selber entlassen zu müssen. Das letzte Beispiel war Mosche Bougie Jaalon, den Netanjahu ausgebootet hatte, indem er Avigdor Lieberman an seiner Stelle zum Verteidigungsminister ernannte, ohne dem populären Jaalon einen angemessenen Ersatzposten anzubieten. Zuvor hatte Netanjahu mit ähnlichen Mitteln Zipi Livni, Ehud Barak, Beni Begin, Gilad Erdan und Andere zum Rücktritt animiert.
Am Sonntagmorgen, zu Beginn der Kabinettssitzung, gestand Netanjahu, dass „diese Krise überflüssig“ sei, ohne einzugestehen, dass er sie mit seinem Baustopp selber ausgelöst hatte. Er bedankte sich beim Verteidigungsminister für das Organisieren des Eisenbahn-Ersatzverkehrs. Den Verkehrsminister erwähnte er nicht, obgleich der neben ihm saß.
Und während am Sonntag, einem normalen Arbeitstag in Israel, immer noch eine Viertel-Million Israelis in den Staus auf den Autobahnen festsitzt, stellt sich nur noch die Frage, ob Katz zurücktreten wird oder auf seinem Posten bleibt, um weiterhin Netanjahu die Stirn zu bieten.
- 04.09.2016
- Ulrich W. Sahm
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ULRICH W. SAHM – Totales Verkehrschaos wegen Machtkampf
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Sacha Stawski
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