Der Historiker Michael Wolfsohn schrieb 2013 in einem Artikel zum Gedenken an den 9. November 1938:
„Machen wir uns nichts vor: das Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus verkümmert meist zum gedankenlosen, sinnentleerten Ritual. Die immer gleichen Redner und immer gleichen Schreiber verbreiten die immer gleichen Worthülsen und Schlagworte wie „gegen das Vergessen oder „Nie wieder!” Die Bürger lassen diese formalen Äußerlichkeiten über sich ergehen. Innere Anteilnahme, keine!“
Leider kann man dieser defätistischen, provozierenden Behauptung nicht ohne weiteres widersprechen. Aber gibt es eine Alternative zur Erinnerung?
Es geht nicht um die formale Erinnerung, sondern um eine lebendige Erinnerung, die das Andenken der verfolgten und ermordeten Juden ehrt und sie soweit noch möglich beim Namen nennt.
Wahrscheinlich ist, dass dieser Gedanke die Mehrheit der Gesellschaft nicht berührt. Aber ist es nicht ausreichend, dass einige Wenige erreicht werden, die die Erinnerung mit- und weitertragen? Und kommt es im Grunde nicht eher auf diese Minderheit an, die tatsächlich Betroffenheit empfindet?
In den sechs Jahren zwischen 1933 und dem zweiten Weltkrieg gab die nationalsozialistische Regierung mindestens 400, Erlasse Verordnungen und Gesetze gegen Juden heraus. Diese Maßnahmen verfolgten letztendlich nur ein Ziel: Ausschluss der Juden aus der sog. Volksgemeinschaft, Ghettoisierung, Vertreibung (auch verharmlosend als Emigration bezeichnet) und schließlich die Auslöschung durch Ermordung.
Mit der Verabschiedung der Nürnberger Gesetze im September 1935, gab es rechtlich keine deutschen Juden mehr. Die Aberkennung der Staatsbürgerschaft und die Einführung der Rasse als Rechtsgut, hatte den Status eines Verfassungsranges erhalten.
In Frankfurt beginnt zeitgleich die „Arisierung” von Stiftungen, die beträchtliche Vermögen in „arische” Hände brachten. So ging z.B. die Königswarther’sche Familienstiftung im Almosen-kasten der Stadt auf. Jüdische Namen wurden aus dem Stadt-leben getilgt.
Durch die Verdrängung aus dem gesellschaftlichen Leben sowie zur Finanzierung ihrer Flucht, sahen sich viele Frankfurter Juden gezwungen, ihren Grundbesitz zu veräußern. Die Stadt beteiligte sich nur zu gerne an solchen „Arisierungsgeschäften”, ca. 170 Privatgebäude darunter Gebäude wie die Villa Kennedy, „wechselten” den Besitzer.
Durch die wirtschaftlichen Hindernisse die für die Auswanderung zu überwinden waren, sowie die Hürden in den Aufnahmeländern, gelang es jedoch insgesamt nur der Hälfte der deutschen Juden, auszuwandern.
In den Abendstunden des 9. November 1938, versammeln sich in Saal des Alten Rathauses am Münchner Marienplatz, Adolf Hitler, sein Propagandaminister Joseph Goebbels und Nazigrößen der ersten Stunde.
Gegen 22 Uhr trifft die Nachricht ein, dass der deutsche Diplomat von Rath gestorben sei. Dies nimmt Goebbels zum Anlass, um in einer Hetzrede zum Pogrom gegen Juden aufzurufen.
Der Polizeipräsident von Frankfurt (Adolf Beckerle) ruft aus München in Frankfurt an und bestellt seine SA-Gruppe ein. Am Morgen des 10. November werden gegen 03:00 Lastwagen mit Benzinkanistern beladen und zu den Frankfurter Synagogen gefahren. Gegen 05:00 brennen die Synagoge am Börneplatz und die Westendsynagoge. Auch die Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft in der Friedberger Anlage, steht in Flammen.
Die Feuerwehr steht dabei, aber schützt nur den „arischen Besitz”. Die Polizei ist auch da, aber sorgt ausschließlich für „Ruhe und Ordnung”.
Ab 6.00 Uhr morgens beginnt die Zerstörung jüdischer Geschäfte, das Ausmaß war unbeschreiblich.
Geschäfte rund um die Hauptwache und der Zeil waren zertrümmert. Die Waren lagen auf der Straße und man war dabei, die Schaufenster mit Holz zuzunageln und „Jude” und den Davidstern darauf zu malen.
Vor allem im Ostend mit seinen vielen jüdischen Geschäften, Wohnungen und Institutionen (Krankenhäuser, Waisenhaus, Schulgebäude, etc.), wird massivst gewütet.
Zur gleichen Uhrzeit werden Wohnungen von Frankfurter Juden von SA, SS, Gestapo, Polizei, sogar von der Hitlerjugend überfallen. Jüdische Männer zwischen 16 und 60 Jahren, und auch Frauen werden verhaftet. Die verhafteten Männer werden in der Frankfurter Festhalle zusammengetrieben. Sie müssen Wertsachen, Uhren, Ringe, Geld und Pässe abgeben.
Nach stundenlangen Stehen oder Turnübungen genannten Quälereien, Demütigungen und Beschimpfungen, kaum etwas zu essen, zu trinken oder die Möglichkeit die Notdurft zu verrichten, wurden die Verhafteten am Abend zum Südbahnhof transportiert. Dort und vor den Toren der Festhalle versammelten sich Volksgenossen, der Weg aus der Festhalle und der Weg in den Südbahnhof glich einem Spießrutenlaufen. Die Zusammengetriebenen wurden geschlagen, verhöhnt und angespuckt. Vom Südbahnhof ging der Transport nach Weimar und dort in das Konzentrationslager Buchenwald.
Heinrich Perlhefter, mit einer Christin verheiratet, beschrieb seine Verhaftung und Verbringung nach Dachau folgendermaßen: Nach der „Kristallnacht” würde ich von zwei SS-Leuten aus meiner Wohnung Zeil 26 abgeholt, mit der Begründung, wir Juden kämmen alle in Schutzhaft. Diese Schutzhaft bestand darin, dass wir im Polizeirevier Hölderlinstraße gesammelt und von da zur Festhalle gebracht wurden. Hier begannen dann die ersten Quälereien. Ein SS-Sturmführer befahl einem SS-Mann, mich den Saujuden, mal vorzunehmen, was dieser danach gründlich getan habe. So musste ich mich in der Festhalle vor der Treppe auf den Bauch legen und von Stufe zu Stufe nach oben robben. Auf der anderen Seite musste ich Purzelbäume schlagen. Als ich unten war, nahm mich ein anderer SS-Mann in Empfang und schlug mit einer Browning auf mich ein. Dabei zerschlug er mir die Zähne und ich brach mir einige Rippen. Danach wurden in eine Ecke Nägel gestreut, auf denen ich einen Kopfstand machen musste. Ich bekam dabei eine Menge Nägel in die Kopfhaut. Ein Mithäftling hat sie mir später mit einem Taschenmesser herausgeholt. Nach diesen Misshandlungen mussten wir alle Purzelbäume schlagen und dazu singen. Gegen Abend wurden wir mit städtischen Omnibussen zum Südbahnhof gebracht und in einem Personenzug Richtung Dachau verladen.
In Dachau angekommen, wurden wir mit Kolbenschlägen aus dem Zug gejagt, dabei gab es zahlreiche Tote. Im Lager mussten wir uns nackt ausziehen und im Freien stehen bleiben. Dort wurden wir mit eiskalten Wasser abgespritzt.
Bis auf die Westend Synagoge, die ausgebrannt stehen blieb, verfügt die Stadt den sofortigen Abbruch für die angesteckten Frankfurter Synagogen. Ebenfalls abgerissen werden die Synagogen in Rödelheim und in Höchst. Von den zahlreichen Betsälen und kleinen Synagogen vor allen im Ostend, sind die meisten demoliert. Die Kosten für die Abbrucharbeiten hatten die jüdischen Gemeinden zu zahlen.
Selbst das jüdische Waisenhaus, wo einige 100 Kinder untergebracht waren, wird nicht verschont. Die Kinder wurden auf die Straße gesetzt, die Einrichtung vollkommen zerstört und verbrannt. Das Verwaltungsgebäude der israelitischen Gemeinde wurde verwüstet und geschlossen.
Spuren der Synagoge am Börneplatz, lassen sich übrigens noch heute finden; die Einfriedungsmauer des städtischen Hauptfriedhofs besteht zu Teilen aus Steinen der ehemaligen Synagoge.
In der Geschichte des antisemitischen Terrors hatte das mit bitterer Ironie „Reichskristallnacht” genannte Novemberpogrom des Jahres 1938, die endgültige Entwurzelung und Desintegration der jüdischen Bevölkerung zum Ziel, noch nicht ihren Tod. Die Vernichtung der Traditionen und lebensweltliche Existenz, sollte zu einer Vorstufe der Vernichtung der Menschen, zur Vorstufe der Endlösung werden.
Die perfekt funktionierende staatliche Bürokratie war es dann, die den Prozess der Massenvernichtung nach 1941 kennzeichnete und ermöglichte.
1933 lebten in Frankfurt ca. 28.000 jüdische Bürger. Im Sommer 1943 galt Frankfurt als „Judenrein”. Innerhalb von 10 Jahren war die jüdische Gemeinde Frankfurt fast komplett ausgelöscht worden.
Der Shoa, mit dem erklärten Ziel, alle Juden in Europa zu töten, fielen 6 Milionen Juden zum Opfer, davon ca. 2 Millionen Kinder und Jugendliche. Diese wurden vergast, erschlagen, erschossen oder einfach lebend begraben.
Ca. 20.000 Kinder aber konnten jedoch gerettet werden, mit Hilfe der sog. Kindertransporte.
Durch den immer mehr zunehmenden Antisemitismus bereits vor 1938 hauptsächlich außerhalb der Großstädte, wurde Frankfurt wegen seiner herausragenden jüdischen Schulen, der Internate und Kinderheime ein Zentrum für Kinder und Jugendliche aus hessischen Orten. Eltern trennten sich lieber von Ihren Kindern, als diese dem täglichen Antisemitismus auszusetzen.
Emigration wurde immer schwieriger, fast alle europäischen Länder, die USA und selbst die Staaten Südamerikas verweigerten die Aufnahme von Juden. Palästina als Einwanderungsland für Juden stand unter britischem Protektorat. Großbritannien unterhielt beste diplomatische Beziehungen zu den arabischen Ländern, die man nicht gefährden wollte.
Wenige Tage nach der Reichspogromnacht sprach eine kleine Gruppe Juden beim damaligen englischen Premierminister Chamberlain vor und forderte, das zumindest jungen Juden aus Deutschland vorübergehend die Einreise nach Palästina genehmigt werden sollte. Die britische Regierung war jedoch aus mandatspolitischen Gründen nicht bereit, die Einwanderungszahlen für Palästina zu erhöhen.
Stattdessen fasste nun aber die britische Regierung den Entschluss, jüdische Flüchtlingskinder in Großbritannien aufzunehmen. Die Eltern durften allerdings aufgrund der angespannten wirtschaftlichen Situation nicht einreisen. Trotzdem entschlossen sich viele Eltern zu dem schweren Schritt, ihre Kinder alleine ins Ungewisse, aber sichere Großbritannien zu schicken.
Die britische Regierung handelte jedoch nicht ausschließlich aus Hilfsbereitschaft. Die Einwanderungszahlen von Juden nach Palästina konnten so reduziert werden, hinzukam, dass gerade Kinder bei einem großen Teil der Bevölkerung Mitleid hervorriefen. Der Aufenthalt der Kinder war zunächst nur als vorübergehend geplant, da man zum Zeitpunkt ihrer Ankunft fest davon ausging, dass sie später entweder in ihre Heimatländer zurückkehren oder aber nach Palästina weiter emigrieren würden.
Auch in anderen Ländern versuchte man aus jüdischen Kreisen, wenn schon nicht für Erwachsene, wenigstens für Kinder und Jugendliche, Asyl zu erreichen.
Das Ergebnis, eher beschämend: Belgien nahm 1.650 Kinder, Niederlande 1.500 darunter 24 Kinder aus Frankfurt, USA ca. 5.000 Kinder, Frankreich ca. 600, die Schweiz 260, Schweden einige Hundert, Norwegen nahm keine Kinder auf.
Die Aufnahme der Kinder und Jugendlichen in Großbritannien war jedoch mit Bedingungen verbunden: Das RCM (Refugee Children’s Movement), musste garantieren, das für die Unterkunft aller Kinder gesorgt werden würde und kein Kind dem britischen Staat zur Last fallen würde. Dazu brauchte jedes Kind eine Garantieerklärung eines Sponsors, in der Regel die Familie, bei der das Kind dann in England leben würde. Fand sich kein Sponsor, auch dies kam vor, musste das RCM alle Kosten übernehmen.
Hilfsorganisationen wie das Jewish Refugees Committee (JRC) oder die englischen Kirchen, trugen wesentlich zur Anschub-finanzierung bei und halfen auch in Krisensituationen.
Ein besonderer Verdienst kommt bei der Unterstützung den Quäkern, auch genannt „Gesellschaft der Freunde”, gerade auch in ihrem Ursprungsland zu. Die Quäker haben sich bevorzugt von jeher solcher Gruppen angenommen, denen von kaum einer anderen Seite geholfen wurde. Dazu gehörten im Exil auch Menschen jüdischer Herkunft, die in sogenannten Mischehen lebten und ihre als Mischlinge verschiedenen Grades klassifizierten Kinder. Besonders das Frankfurter Büro der Quäker, tat sich mit seiner Hilfe hervor.
Am 2. Dezember 1938 erreichte der erste Transport, eine Fähre mit 196 Kindern aus Deutschland, Großbritannien.
Die jüdische Wohlfahrtspflege in Deutschland organisierte das Gros der Kindertransporte von den großen Bahnhöfen aus.
Die Wohlfahrtspflege der Jüdischen Gemeinde Frankfurt war zuständig für die Organisation in Südwestdeutschland. Frankfurt diente als Ausreise-Knotenpunkt für den gesamten Südwesten, z.B. auch für „Kindertransporte” aus München.
Von Berlin, München, Wien, Frankfurt und Prag fuhren die Transporte meistens nach Hoeck van Holland, von dort gelangten sie mit dem Schiff an die englische Küste.
Ab Januar 1939 fuhren zweimal im Monat Züge aus Frankfurt ab, später nahm die Zahl zu. Die Anzahl der Kinder betrug jeweils zwischen 50 und mehreren Hundert, ihr Alter lag hauptsächlich zwischen 3 und 17 Jahre. Am 31. August verließ der letzte Zug Frankfurt, mit Kriegsbeginn im September 1939 wurden die Grenzen geschlossen und dies war das Ende der Kindertransporte.
Viele dieser Daten finden sich im Internet unter dem Projekt „Jüdisches Leben in Frankfurt”. Mein Dank dafür, gilt Frau Angelika Rieber und vielen anderen, die in den letzten Jahrzehnten zahlreiche „Kindertransport”-Zeitzeugen interviewt und auch bei ihren Besuchen in Frankfurter Schulen begleitet haben.
Gerade in den ersten Monaten des Kindertransportes, legten die Organisationen den Schwerpunkt ihrer Aktionen auf die Rettung von Jungen über 14 Jahren, die sich bereits in Konzentrationslagern befanden. Ebenfalls mit Priorität behandelt, wurden Anträge von Kindern deren Eltern bereits verhaftet worden waren, auch staatenlose Kinder, die täglich von Ausweisung bedroht waren.
Nach der Ankunft in England, saßen die Kinder auf den langen Holzbänken am Bahnhof mit einem Namensschild um den Hals und warteten darauf, dass sie abgeholt wurden. Einige hatten Glück mit ihren Gastfamilien, andere, v.a. Mädchen wurden als kostenlose Arbeitskräfte ausgewählt und mussten als Dienstmädchen schwerst arbeiten.
Kinder, die noch nicht vermittelt werden konnten, wurden nach der Ankunft in England zunächst in ein Sammellager, wie z.B. in das Dover Holiday Camp geschickt. Der Winter 1938/39 war einer der kältesten in Großbritannien im ganzen Jahrhundert und die Kinder froren erbärmlich in den zugigen Sommerhütten. Potentielle Pflegeeltern besuchten das Camp und wählten Kinder aus, teilweise wie auf einem Viehmarkt.
Mit Ausbruch des zweiten Weltkrieges veränderte sich für alle Flüchtlingskinder die Situation. Viele wurden evakuiert, mussten damit erneut die gerade vertraute Umgebung wechseln, andere, wie ältere männliche Jugendliche, wurden absurderweise als deutsche Spione verdächtigt und in Lagern interniert, die sich teilweise in Australien befanden.
Anja Salewsky über Ruth Rubinstein: Ruth kam im Alter von vier Jahren gemeinsam mit ihrem älteren Bruder nach England. Sie konnte sich kaum noch an ihre leibliche Mutter erinnern, nur flüchtige Erinnerungssplitter an Umarmungen blieben ihr erhalten.
Die Kinder kamen bei einer englischen Pflegefamilie unter. Ruth wurde von schrecklichen Schuldgefühlen gequält, da sie dachte, dass ihre Mutter sie nicht mehr sehen wolle und sie verstoßen habe. Ruth ertrug bald den seelischen Druck nicht mehr, machte dann jede Nacht ins Bett und wurde von der Pflegemutter zur Strafe jeden Morgen mit einem Lederriemen verprügelt.
Nach einem Jahr wurden die beiden Geschwister dann in ein Internat geschickt, wo Ruth erleichtert feststellen konnte, dass hier alle Kinder ins Bett machten, ohne bestraft zu werden.
Ihre Mutter erklärte sie für sich und anderen gegenüber für tot, heute weiß sie, dass das ein Selbstschutzmechanismus war:
„Denn der Gedanke, dass die eigene Mutter mich nicht mehr wollte und im Stich gelassen hatte, war unerträglich. Sie für tot zu erklären, löste das Problem”.
Nach zwei Jahren mussten die Geschwister das Internat verlassen, und kamen in ein Heim in London. Glücklicherweise fand sich jedoch bald eine neue Familie, in der sich beide Geschwister zunächst sehr wohl fühlten.
Das Haus der Pflegeltern lag direkt in der Fluglinie der V1-Bomben, die jede Nacht über das Haus flogen. Für Ruth war das nicht schlimm, doch Martin wurde „fast irre vor Angst”.
Also kamen die beiden wieder in eine neue Familie, die auf einem abgelegenen Bauernhof lebten.
Ruth fühlte sich dort so zu Hause, das die Pflegeeltern über eine Adoption nachdachten.
„Doch dann kam der Brief, der alles veränderte. Ein Brief von meiner leiblichen Mutter zehn Jahre nach unserem Abschied. Ich traute meinen Augen kaum. Dort stand, dass sie kommen würde, um mich zurückzuholen – zurück nach Deutschland!
Ich wollte nicht, dass meine Mutter von den Toten aufersteht. Und dass wieder alles über Nacht zerstört wird”.
Das Wiedersehen wurde zur Katastrophe, Ruth weigerte sich, deutsch zu sprechen und sich von der Mutter umarmen zu lassen. Die Mutter kehrte alleine nach Hause zurück.
Kurz darauf kam eine gerichtliche Anordnung, dass die Pflegemutter die Kinder umgehend nach Deutschland zurück bringen müsse. Mit 14 Jahren war Ruth dann zurück in Mainz und fühlte sich erneut wie in einer fremden Welt mit einer fremden Sprache.
Beide Eltern hatten sich durch das Konzentrationslager stark verändert, die Mutter litt unter ständigen Schmerzen. Beständiges Schweigen zwischen Mutter und Tochter breitete sich aus. Nach einigen Monaten resignierten die Eltern, Ruth durfte wieder nach England, ließ sich zum Abschied noch nicht einmal umarmen. Aber auch bei den Pflegeeltern fühlte sie sich nicht mehr richtig zu Hause.
Sieben Jahre später fasste Ruth noch einmal den Entschluss, einen Neuanfang mit den Eltern in Deutschland zu versuchen, doch auch dieser Anlauf scheiterte und sie fuhr endgültig wieder nach London.
Sie wurde Psychoanalytikerin und arbeitete mit Menschen, die durch den Holocaust traumatisiert waren.
„Heute weiß ich, dass meine Mutter mich gerettet hat. Zweifellos hat sie mich sehr geliebt. Und trotzdem konnte ich nie wirklich zu ihr zurückkehren. Das werde ich immer mit mir herumtragen – bis ans Ende meines Lebens”.
Die meisten der Eltern der geretteten Kinder wurden ermordert.
Fest steht, das ein großer Teil der europäischen Juden und selbstverständlich andere von den Nazis ermordeten Minderheiten hätten gerettet werden können, wären die möglichen Aufnahmeländer bereit gewesen, Flüchtlingen langfristige und zuverlässige Zuflucht zu gewähren.
Neben der verpflichtenden Erinnerung an die ermorderten Juden, Opfer der Nazidikatur, erstreckt sich unsere Verantwortung auch auf das aktuelle gesellschaftliche und politische Umfeld, indem wir hier und heute leben.
Die Geschichte der NSU-Terrorzelle und ihrer Helfer beweist, dass der braune Sumpf keineswegs ausgetrocknet ist, vielmehr sind menschenverachtende abartige Ideen aus diesem düsteren Kapitel deutscher Geschichte immer noch und wieder virulent.
Es gilt möglichen Anfängen zu wehren und das Erinnern trägt entscheidend dazu bei, das Bewusstsein für diese latente Gefährdung unserer Gesellschaft wach zu halten.
Wenn wir erlauben, dass die letzten Überlebenden ihre Erinnerungen und Erfahrungen, Ihre persönlich erzählte Geschichte, mit ins Grab nehmen, wird der Holocaust wie ein Albtraum verblassen doch genauso wie ein Albtraum immer wiederkehren um uns zu verfolgen:
„Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen”.
Jona Gilman
Eine sehr gute Rede mit einem sehr tiefsinnigen Abschlusssatz!