Vor wenigen Jahren unterhielt ich mich mit dem Kulturhistoriker Arne Franke über seine Recherchen im Hirschberger Tal. Er wusste viel, was mir unbekannt war, aber was er nicht kannte, war die Geschichte der schlesischen Juden, die mit dieser Idylle untrennbar verbunden ist. Dazu gehörte auch die Familie Caro. Es waren sephardische Juden, die sich vor Jahrhunderten vor Pogromen aus Portugal nach Schlesien gerettet hatten. Im 19. Jahrhundert wurden sie freier und wussten das zu nutzen. Der alte Moritz Isaak Caro hatte einen Eisenhandel. Seine Kinder waren außergewöhnlich erfolgreich. Der von den Brüdern Georg und Oscar geführte Konzern „Deutsche Eisenhandels-AG“ hatte in seinen besten Zeiten einen jährlichen Umsatz von 120 Millionen Reichsmark. Georg wurde in den Adelsstand erhoben. Man war “ emanzipiert“ und hatte das Gefühl, angekommen zu sein. Mein Urgroßvater, Oscar Caro, der als herausragende Unternehmerpersönlichkeit galt, hatte 1894 das Schloß Paulinum für seine Familie gekauft… „als Oscar Caro 1931 starb, erwarb die Deutsche Arbeitsfront das Schloss und baute es zu einer Schulungsburg der NSDAP um…“ heißt es in dem Buch von Franke …. und auf Seite 127 sieht man oben den Salon meiner Urgroßeltern im Turm und unten dann das Bild des Schlosses mit den Fahnen der Nazis. Hier auf Seite 128 ist noch ein Bild des Arbeitszimmers. Die Bilder hat Arne Franke von mir. Leider ist es aber auch ihm noch nicht geglückt, die historische Lücke zu schließen. Was war zwischen 1931 und 1934?
Meine Großmutter, Ida Lahusen ( geb. Caro) hat uns Enkeln immer nur Ausschnitte der Familiengeschichte erzählt und als sie starb, war ich 11 Jahre alt. Von dem Besitz der Familie war nichts geblieben. Die große Sippe der Caros ist verstreut in alle Welt…ein Teil von ihnen wurde ermordet. Als Großmutter mir von ihrer Kindheit berichtete, war mein Vater Christian Lahusen, der das Ganze als junger Mensch miterlebt hat und dessen Gesundheit in der Lagerhaft ruiniert worden war, schon tot. Er hatte seiner vierjährigen Tochter noch erzählt, dass er auf Paulinum reiten gelernt hatte…eine versunkene Welt. Seine Mutter erzählte dann später der zehnjährigen Enkelin, wie die Betten in Theresienstadt ausgesehen haben. Dreistöckig, aus Holz. Und die Geschichte dazu war kein Kindermärchen. Es war ein Bericht voller Angst und Tod. Mit Läusen, Krätze, Ratten, Hunger und dreckigen grauen Lumpen… Meine Mutter musste als Witwe 3 Kinder großziehen und hatte andere Sorgen. Sie bat die Oma, in ihren Schilderungen etwas behutsamer zu sein…
Als ich jetzt im Juli in Yad Vashem meine Hand an dieses KZ- Bett legte, war plötzlich wieder in Großmutters Zimmer im Altersheim. Eine kleine, kluge, freundliche Frau mit einem messerscharfen Verstand. Ida Lahusen, geb. am 23. 3. 1889, vererbte mir ein kleines Büchlein, in das sie in der Zeit der Verfolgung Gedichte geschrieben hat, ihren Ausweis, den sie nach der Befreiung bekommen hatte, ihren Stolz auf die Familie ihrer Eltern und ihre Liebe zur deutschen Sprache. Als die Enkelin zum ersten Mal nach Israel kam, war sie so alt, wie die Oma, als diese sich zum ersten Mal in so ein Bett legen musste. Ida war nicht stolz auf das verlorene Geld, sie war stolz auf die Klugheit ihrer Vorfahren. Sie erzählte dem Mädchen von der Liebe ihres Vaters, der ein guter Mensch gewesen sein muss und von einem Rabbi, der vor vielen hundert Jahren ein wichtiges Buch geschrieben habe… Schulchan Aruch. Joseph ben Ephraim. Meine Großmutter nannte es scherzhaft “ das erste jüdische Taschenbuch“. Ein jüdisches Regelbuch, praktisch für Reisende. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.
…Es kam die deutsche Teilung, die Mauer, der Sozialismus… Hirschberg wurde Jelina Gora und gehört jetzt zu Polen. Ida hat das Haus ihrer Familie nie wieder gesehen.
Das Paulinum ist heute ein sehr schönes, exklusives kleines Hotel. Die jetzigen Besitzer pflegen die alten Möbel und haben einen Sinn für die Schönheit des Hauses. Arne Franke hatte mir versprochen, mir ein Exemplar seines Buches zu schenken. Das kam jetzt, passend zum Wochenende. Ein hübscher kleiner Reiseführer.
Mein Urgroßvater und sein Bruder waren hochdekorierte preußische Offiziere. Die Liebe der Familie Caro zu Deutschland wurde von besagtem Vaterland nicht erwidert. Es gibt in Israel viele Menschen, die deutsch sprechen. Ich bin froh, dass ihre Kinder und Enkel in einer Armee dienen, die Juden beschützt. Und mehr noch, deren Berater heute sogar den Deutschen zeigen, wie man Demokratie vor Terror schützen kann. Mein Großvater, Christian Heinrich Lahusen war im ersten Weltkrieg ebenfalls Offizier im preußischen Heer. Damals kämpften und verloren jüdische und christliche Deutsche den Krieg gegen jüdische und christliche Franzosen. Nach dem ersten Weltkrieg ging er nach Buenos Aires und blieb dort. Auch Frankreich hat die Liebe seiner Juden nicht erwidert. Jüdische Verwandte von mir wurden 1944 aus Lyon nach Bergen Belsen in den Tod geschickt, während andere, nichtjüdische Verwandte für das deutsche Verbrecherregime an der Front krepierten. Ein Cousin hat das einmal sehr treffend zusammengefasst: “ Ein Teil unserer Verwandten wollte den anderen umbringen. “ Wir leben damit. Aber nicht nur meine Verwandten, sondern Menschen in ganz Europa und in Israel. Die Front, die damals mitten durch die Familien ging, tut heute noch weh. Und sie hinterließ auch im Privaten ihre Spuren. Das Kind, das nach dem Tod des Vaters jahrelang Nächte in Albträumen verbrachte, weigerte sich, Fremdsprachen zu lernen und grub sich hinein in die deutsche Literatur. Weiß man, was einen dazu treibt, bestimmte Dinge zu meiden und andere zu tun? Andere wanderten aus und sprachen kein deutsches Wort mehr. Schmerz kann lähmen, er kann aber auch das Bewusstsein schärfen. Jahrelang galt meine Sorge Kindern mit Behinderung und kleinsten Babys, die noch nicht sprechen können. “ Lebensunwertes Leben“ nannte man das in der Zeit nationalsozialistischer Verbrecher. Ihre wortlose Sprache war mir wichtig. Es schiehn mir eine gute Art, dem Leben einen Sinn zu geben. Doch die Zeiten ändern sich. Man lernt, auch anderes zu integrieren, was in der Vergangenheit liegt und es für die Gegenwart fruchtbar zu machen.
Die Enkelin sephardisch- jüdischer Siedler , ausgeplünderter und verjagter und vergessener deutscher Juden, Bremer Kaufleute und schwäbischer Bauern, englischer Pfarrer und französischer Hugenotten schreibt nun Texte zur israelischen Gegenwart. Und beginnt jetzt im Alter auch, sich für die Sprachen zu öffnen, in denen ihre Vorfahren sich bewegten…und ist glücklich darüber, dass sie das Leben und die Arbeit eines Menschen teilen kann, der wie kein zweiter der europäisch- israelischen Geschichte und Gegenwart sich verpflichtet fühlt. Zeugnis ablegen. Das berichten, was ist. Zusammen mit Ulrich Sahm, dessen Schicksal ihn dazu geführt hat, in vielen Ländern viele Sprachen von innen heraus zu lernen. Was bleibt, ist die Freude darüber, dass andere Menschen das alte Haus pflegen. Was bleibt, ist ein Bewusstsein für das, was jeder Tag fordert. Auch in Deutschland. Gerade in Deutschland. Und wenn meine Pflegekinder mir über die Jahre verbunden bleiben und mein Sohn mir heute berichtet, dass er auf Englisch denken kann und kein Problem hat, sich in fremden Sprachen zu bewegen, dann weiß ich, dass das Leben mehr ist, als die Fehler und Verletzungen der Vergangenheit. In diesem Sinne: SHANA TOVA, meine Freunde in aller Welt! Mögen wir eingeschrieben sein im Buch des Lebens!
Hinterlasse eine Antwort
Sie müssen... (sein)angemeldet sein um einen Kommentar zu schreiben.