Sehr geehrte Damen und Herren, wenn auch heute in kleiner Runde.
In einem Vorwort zu dem Buch „Wir lebten und schliefen zwischen den Toten” von Kaiser und Knorn, schreibt Salomon Korn:
Bei näherer Betrachtung offenbaren sich auffällige Unschärfen im historischen Bewusstsein vieler Deutscher, wenn es um den Nationalsozialismus und seine Folgen geht. Dabei sind die zahlreichen Lücken im kollektiven historischen Gedächtnis der Deutschen nichts anderes als Symptome eben dieser Folge, denn der national-sozialistische Völkermord hinterließ Deutschland eine traumatische Belastung des nationalen Selbstverständnisses.
Wie bei psychischen Traumata üblich, reagierten viele Deutsche mit Abwehr, Leugnung, Verdrängung der eigenen Geschichte verstärkt durch Flucht in einem hektischen Wiederaufbau.
Die weitverbreitete Weigerung sich mit der eigenen Rolle während jener zwölf ewigen Jahre kritisch auseinanderzusetzen, führt häufig zu einem nachgängig vorgenommenen Rollenwechsel:
man war nicht Täter, Mitläufer, Profiteur der Dulder, sondern selbst Opfer nationalsozialistischen Terrors geworden und damit gänzlich frei von Verantwortung für Verbrechen des Dritten Reiches.
Die Bezeichnung Nationalsozialisten wurde und wird seither so verwendet, als seien Nationalsozialisten keine Deutschen, sondern Invasoren gewesen, die Deutschland besetzt und Deutsche unterdrückt hätten.
Der bis 1945 verwendete aktive Begriff des Opfers erfuhr nach Kriegsende unter der Hand eine semantische Umwandlung in einen bis in unsere Gegenwart wirkenden passiven Opferbegriff.
Das daraus entwickelte historische Gedächtnis musste zwangsläufig unscharf, dumpf, beschönigend bleiben. In diesem Zusammenhang sind Betroffenheitsbekundungen nichts anderes als subtile Formen der Abwehr. Es ist leichter Scham zu beteuern, als sich mit Ursachen und Folgen nationalsozialistischer Verbrechen eingehend auseinanderzusetzen.
Wer jedoch Erinnerung und Gedenken glaubwürdig gestalten möchte, muss eine möglichst genaue inhaltliche Präzisierung der zu gedenkenden Ereignisse anstreben, das einzige was man für die Opfer des Tausendjährigen Reichs noch tun kann.
In einem Auszug aus einem Brief des 19-jährigen Bernhard Natt über den Novemberpogrom in Frankfurt am Main aus „Novemberpogrom 1938 in Frankfurt am Main” von Kößler, Rieber und Gürsching publiziert 1993, spiegelt sich das Geschehen vom 9. November wieder:
Lieber Ernst und lieber Walter,
nachdem ich einigermaßen zur Ruhe gekommen bin, will ich euch beiden berichten, was ich in den letzten kritischen Tagen in Frankfurt erlebte. Am Mittwoch den 9.11. Nachmittags, kam die Nachricht durch, v. Rath sei gestorben und kurz darauf erfuhren wir, das sämtliche Organisationen und Zeitungen verboten seien. Ich fuhr mit dem Rad in die Stadt um mir dort die Zustände näher anzusehen.
Der Zeitpunkt für das Pogrom war günstig gewählt durch den Tod v. Raths und durch die entsprechenden antijüdischen Kampagnen wurden auch sonst gleichgültige Leute gegen uns aufgeheizt.
Auf der neuen Zeil sah ich etwas Ekelhaftes. Aus einem Haus wurden drei jüdische Jungen in meinem Alter von einem Haufen junger Kerle herausgeholt, fürchterlich verprügelt und dann gejagt d.h. man lies sie laufen und verfolgte sie. Einer hatte eine große blutende Wunde an der Schläfe, konnte kaum noch laufen und wurde von seinen beiden Kameraden gestützt. Hinterher mit Gejohle und Geschrei der Pöbel. Schließlich konnten sie in die Seitenstraße entkommen.
In der Stadt kam ich mit dem Rad kaum durch. Überall zogen Trupps herum. Erst wurden die Türen der jüdischen Geschäfte aufgebrochen, die Läden von innen hochgezogen, wenn man sie nicht von außen herunterreißen konnte und mit großen Eisenstäben oder Hämmern, die Erkerscheiben restlos zertrümmert.
Alles im Schaufenster und im Laden restlos zerstört und geplündert. Es wurde natürlich geplündert, ich sah es mit eigenen Augen. Nur in einigen Geschäften z.B. bei Speyer, verhinderten es die arischen Angestellten. Doch bei Ehrenfeld und den meisten anderen blieb nichts im Schaufenster.
Systematisch Straße für Straße wurde heimgesucht auch die kleinsten Läden wurden nicht verschont. Der größte Teil der Bevölkerung beteiligte sich aber nicht und ich hörte ablehnende Bemerkung.
Viele Arier wurden von der Straße weg verhaftet, ein-mal sagte eine Frau „die armen Juden”, ein anderes Mal ein Herr „das ist unsere Kultur”, sie wurden gleich mitgenommen.
Aus der Hauptsynagoge schlugen die Flammen aus dem Fenster und dem Dach heraus. Die Feuerwehr löschte nur, soweit umliegende Häuser gefährdet wurden. Bis jetzt am schlimmsten mitgenommen, war die Börneplatz-Synagoge. Sie war innen schon ganz ausgebrannt und der Staat „beschlagnahmte” gerade die Wohnungseinrichtung des Synagogendieners, d.h. der Besitz dieser sicher schon verhafteten Leute wurde gerade durch Polizei und Arbeiter geholt und in Lastwagen verladen. Parteimitglieder kamen vorbei und grüssten sich freudig. „Diesen Tag habe ich schon lange herbeigewünscht”, rief einer dem anderen neben mir zu”. (Zitatende)
In der Geschichte des antisemitischen Terrors hatte das mit bitterer Ironie „Reichskristallnacht” genannte Novemberpogrom des Jahres 1938, die endgültige Entwurzelung und Desintegration der jüdischen Bevölkerung zum Ziel, noch nicht ihren Tod.
Die Vernichtung der Traditionen und lebensweltliche Existenz, sollte zu einer Vorstufe der Vernichtung der Menschen, zur Vorstufe der Endlösung werden.
1933 lebten in Frankfurt ca. 28.000 jüdische Bürger. Im Sommer 1943 galt Frankfurt als „Judenrein”. Innerhalb von 10 Jahren war die jüdische Gemeinde Frankfurt fast komplett ausgelöscht worden.
Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen, gibt es Menschen, die aus Angst vor dem hierzulande zunehmenden offenen Antisemitismus, das Land verlassen, um nach Israel zu gehen.
Richard Schneider, der frühere ARD Korrespondent in Israel schrieb letztes Jahr, als er nach Israel auswanderte:
„Als mich also die Nachrichten aus Halle erreichten, war ich nicht überrascht. Warum auch? Seit Jahren warnen wir Juden vor den Entwicklungen. Und niemand hört uns zu. Wir warnen davor, dass Antisemitismus längst wieder salonfähig geworden ist, aber nur wenige glauben uns. Im Gegenteil, wir werden dann gern als „überempfindlich” abgewertet.
Doch Nichtjuden wollen selten einsehen, dass nur wir wirklich wissen, wie sich das Leben als Jude in Deutschland anfühlt. Wir hören die antijüdischen Äußerungen in unserem Alltag, wir erleben die zunächst schleichende, inzwischen galoppierende Verschärfung der Lage hautnah.
Auf der Straße „draußen”, aber auch im privaten Umfeld und im Beruf, überall, die Schamlosigkeit hat sich breitgemacht. Nicht nur bei Rechtsextremen und Neonazis, nicht nur bei rassistischen Linken, die in ihrem Hass auf Israel gerne antisemitische Klischees benutzen und nicht merken, dass sie keinen Deut besser sind als ihre NS-Vorfahren, von denen sie sich doch so gern unterscheiden möchten.
Der Antisemitismus ist längst wieder in der Mitte der Gesellschaft, nein, nicht „angekommen”, denn er war ja nie weg: Er ist einfach wieder hervorgekrochen aus seinen Löchern, er ist überall präsent, und wir sehen, lesen und hören ihn, egal, ob es sich um antisemitische Karikaturen, Klischeefotos oder Verschwörungstheorien in renommierten deutschen Tageszeitungen handelt, egal, ob in gepflegten Kreisen über die „Allmacht der jüdischen Lobby” oder über unseren „unendlichen Reichtum” phantasiert wird.
Wir sind „die unbekannte Welt nebenan”, wie der Spiegel titelte, also auf keinen Fall Teil der deutschen Gesellschaft.
Das große Problem in Deutschland ist, dass „Auschwitz” zur Messlatte für Judenhass gemacht wurde. Alles, was „weniger schlimm” als Auschwitz ist, konnte jahr-zehntelang sozusagen unten durchspazieren. Das „wehret den Anfängen”, dass „nie wieder!” ist längst zur Phrase geworden bei all den Gedenkveranstaltung-en, die nur noch starres Staatsritual sind und nichts, aber auch gar nichts mit der gesellschaftlichen Realität zu tun haben. (Zitatende)
In Anbetracht der Ausführungen von Johannes Boie in der Welt am Sonntag zum Antisemitismusforscher Wolfgang Benz, wird offensichtlich, womit wir als Juden in Deutschland aber auch unsere Gesellschaft es zu tun haben.
„Der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz will antijüdische Ressentiments „differenziert“ betrachten. Was das bedeutet, bleibt sein Geheimnis. Im Interview mit dem Deutschlandfunk sagte Wolfgang Benz wört-lich, er sei betrübt, dass „wichtige und ernsthafte Dinge wie der Antisemitismus in Deutschland … bekämpft wird“.
Ich dachte, das sei ein Versprecher gewesen, peinlich zwar, kann aber jedem passieren. Dann fiel mir ein, dass Benz ja die Seiten gewechselt und vor kurzem ein Buch herausgegeben hat, in dem es zum Beispiel sinngemäß heißt, dass die Attacke eines Syrers auf einen Kippaträger in Berlin nicht antisemitisch sei, man müsse den Angriff „differenziert“ betrachten, dann entpuppe er sich als „jungmänner-typisches Macht- und Selbstdarstellungsgebaren im politischen Kontext des Nahost-Konflikts“.
Diese Art der Differenzierung ist mir ganz neu, ich muss aber zugeben, dass sie gewaltige Möglichkeiten einschließt:
Wie wäre es mit Vergewaltigung als „Machtgebaren im sozialen Kontext sexuellen Begehrens“ oder einer Neubewertung des Überfalls auf Polen 1939 als „nationalstaatstypisches Expansionsgebaren im Kontext neuer Grenzziehung“? (Zitatende)
Frankfurt war und ist wie kaum eine andere Stadt geprägt von der jüdischen Gemeinschaft.
Von einer jüdischen Gemeinschaft, die vor dem mörderischen Grauen des Nationalsozialismus diese Stadt kulturell, wirtschaftlich, in Wissenschaft und Philosophie, in Politik und Sozialem, bereichert und beflügelt und damit weit über die Stadtgrenzen bekannt gemacht hat.
Die Jüdische Gemeinde Frankfurt ist heute eine florierende, eine in der Stadtgesellschaft aktive und zukunftsgerichtete Gemeinschaft, die ihren Beitrag leistet. Wir sind nicht Mitbürger dieser Stadt, sondern Bürger. Wir sind nicht auf das Wohlwollen anderer angewiesen uns als Teil dieser Stadt zu fühlen, wir SIND ein Teil dieser Stadt. Und dies lassen wir uns von keinem nehmen.
Rechtspopulisten, Geschichtsrevisionisten und Relativierer deuten die Geschichte um und fordern eine erinnerungspolitische Wende. Rechtsextreme Positionen werden plötzlich auch in der Mitte der Gesellschaft sicht- und hörbar, quer durch die Parteien ist ein aggressiver Antisemitismus in der bürgerlichen Mitte salonfähig geworden.
Scheinbar harmlose Corona-Gegnern, üben sich in Geschichtsklitterung. Vor 2 Tagen auf der Demo in Leipzig gaben sich Neonazis ein großes Stelldichein, eine Frau trägt ein Schild um den Hals auf dem steht: „ich bin ein Covidjud” und dazu einen stilisierten Davidstern.
Wer ernsthaft auf die Idee kommt, den „gelben Stern“, der für die Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten steht, so schamlos zu missbrauchen, um Aufmerksamkeit für seine Kritik an einer möglichen Impf- und Maskenpflicht zu erzeugen, kann nicht normal sein. Welcher Bürger, der bei Sinnen ist, vergleicht den Virologen Drosten mit Josef Mengele oder sich selbst mit dem Schicksal von Anne Frank?!
Irre? – Ja! Aber dürfen wir dies ignorieren? Nein.
Denn all dies stellt nicht nur eine maßlose Geschichtsverfälschung dar, sondern verhöhnt das Leid der Opfer und relativiert die Greueltaten der Shoa.
Am schlimmsten ist aber das Schweigen der Mehrheitsgesellschaft, die offenbar nicht versteht, dass Antisemitismus kein Problem der Juden, sondern dass Ihre ist, da Antisemitismus immer auch ein Angriff auf die Demokratie ist.
Menschen gehen für die Rettung der Bienen auf die Straße – wieso eigentlich nicht, wenn Juden in Deutschland angefeindet und attackiert werden?
Wir dürfen nicht nachlässig werden im Kampf gegen Judenhass. Es gibt keinen vermeintlich legitimierten Antisemitismus, Antisemitismus ist und bleibt ein nicht zu rechtfertigender Menschenhass.
Es ist die Aufgabe Aller, gemeinsam mit Politik, Kirchen und Religionsgemeinschaften etwas tun.
Nicht morgen, nicht heute, sondern schon längst!!
Honestly Concerned e.V.
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https://www.change.org/p/keineleerenworte-f%C3%BCr-mehr-bildung-im-kampf-gegen-antisemitismus-9november-reichspogromnacht-niewieder