Der 09. November 1938 liegt nunmehr 83 Jahre zurück. Wie viel Zeit seitdem vergangen ist, sieht man bereits daran, dass ich heute hier in der Paulskirche spreche. Denn das ist überhaupt das erste Mal, dass für den Vorstand der Jüdischen Gemeinde jemand an diesem Tag aus der dritten Generation eine Rede hält. Das ist daher eine Premiere – und nicht nur für mich persönlich.
Denn ich stehe heute hier sozusagen symptomatisch und sinnbildlich für die immer größer werdende, zeitliche Distanz. Damit geht unweigerlich die Frage einher: Folgt aus dieser zeitlichen Distanz nicht zwangsläufig eine emotionale Distanz? Oder anders ausgedrückt: Ist eine emotionale Nähe angesichts des Zeitverlaufs überhaupt noch möglich, ja überhaupt noch notwendig? Gab es im Laufe der letzten 83 Jahre nicht zahlreiche andere historische Ereignisse, die uns näher sind, uns mehr berühren? Warum müssen wir das Ritual des Gedenkens an diesem Tag fortführen? Wozu, für wen, wie lange noch?
Diese Fragen hört man immer häufiger. Für die Beantwortung dieser Fragen ist es zunächst wichtig, sich zu vergegenwärtigen, was an diesem 09. November 1938 denn tatsächlich geschah. Der 09 November war auf der einen Seite ganz gewiss nicht der Anfang der Judenverfolgung, 1938 waren die Nazis bereits 5 Jahre an der Macht, die Nürnberger Gesetze waren seit 3 Jahren in Kraft und Juden durften schon längst nicht mehr als Anwälte, Ärzte und Beamte arbeiten. Der 09. November war andererseits aber noch lange nicht der Höhepunkt des Schreckens, es sollte alles noch viel, viel schlimmer kommen.
Was diesen 09.11 aber so besonders macht, war die neue Dimension des unverhohlenen Hasses, die ungezügelte Aggressivität, die Enthemmung der Gewalt gegen Juden in ganz Deutschland. In dieser Nacht zerbrach nicht nur das Glas in den Schaufenstern der jüdischen Geschäfte und der Synagogen, es zerbrachen auch die Leben, die Seelen und die Hoffnungen der Juden in Deutschland auf eine Zukunft in diesem Land; ihrer Heimat.
Über 1.400 Synagogen brannten, über 7.000 Geschäfte wurden zerstört und geplündert, 30.000 Juden wurden in die Konzentrationslager deportiert, hunderte von ihnen wurden ermordet. Hier in Frankfurt wurden 1.000 jüdische Männer aus ihren Wohnungen gezerrt, von ihren Familien getrennt, in die Festhalle gebracht, sadistisch gedemütigt, geschlagen und anschließend deportiert, die meisten davon nach Buchenwald. In den Folgetagen wurden weitere 2.000 Frankfurter Juden in Lager deportiert. Die Erinnerung an die Einzelschicksale, an den unmittelbar daran anschließenden staatlich angeordneten Massenraub vom jüdischen Eigentum ist ebenso wichtig wie die Klarstellung, dass der 09.11 eben gerade keine bloße „Kristallnacht“ war, sondern eine Nacht der tausendfachen Plünderung, der Brandstiftung, der Gewalt, des Raubes und des Mordens.
Viel entscheidender ist aber die Erkenntnis: Diese Nacht war die moralische Bankrotterklärung, das kollektive Versagen einer ganzen Gesellschaft. Das Schweigen der Masse war das Signal für die Vernichtung der Juden in Deutschland und Europa. Ohne die Ereignisse am 09.11 und die von der Mehrheitsgesellschaft widerspruchslos hingenommene – oftmals sogar noch bereitwillig unterstützte –Zerstörung der Synagogen und der Massendeportationen wären die weiteren Ereignisse gar nicht vorstellbar gewesen.
Angesichts der brennenden Synagogen in ganz Deutschland und der Shoa wird oft die Frage gestellt: Wo war Gott? Die wichtigere Frage ist jedoch: Wo waren die Menschen? Die erste Frage kann ich nicht beantworten, die zweite aber schon. Sie haben in dieser Nacht massenweise geschwiegen, weggesehen und die Verbrecher unterstützt.
Des müssen wir uns immer wieder vor Augen führen und deswegen sind solche Gedenkveranstaltungen immer noch so wichtig. Das alleine reicht aber selbstverständlich nicht. Neben solchen Ritualen ist es gerade für die jungen Generationen erforderlich, die Erinnerung so anschaulich wie möglich zu gestalten. Es gibt zahlreiche gute pädagogische Konzepte für eine zeitgemäße Vermittlung der Erinnerung, aber es gibt noch viele andere Möglichkeiten. In ganz Deutschland gibt es ja die 1.400 Tatorte, an denen die Synagogen standen, an den meisten hängen kleine Gedenkpaletten. Weshalb Schulen in ganz Deutschland es sich nicht zur Aufgabe machen, an einem solchen Gedenktag die Orte des Verbrechens mit ihren Klassen zu besichtigen, die konkrete Geschichte zu erzählen, eine emotionale Nähe herzustellen und damit eine lebendige Erinnerungskultur zu schaffen, ist kaum zu begreifen. Es ist allerhöchste Zeit, dass solche Besuche in allen Schulen in Deutschland endlich zur Pflicht und zur Regel werden.
Da es kaum noch Zeitzeugen gibt, ist es unsere Verantwortung, die Erinnerung weiterzutragen, denn das Wissen der Vergangenheit in Kombination mit dem Umgang mit der Erinnerung festigen die Verantwortung für die Zukunft.
Gerade die letzten Monate haben uns Juden in Deutschland eindrucksvoll und schmerzlich gezeigt: Nie war es wichtiger, darauf hinzuweisen, was passieren kann, wenn aus der Vergangenheit nicht gelernt wird. Laut Polizeistatistik gab es noch nie so viele antisemitische Straftaten wie im vergangenen Jahr. An vielen Orten in Deutschland gilt: Wer als Jude erkennbar in Deutschland unterwegs ist, ist gefährdet. Die Liste der Gewalttaten wird immer länger: In Köln und Hamburg wurden Juden auf brutale Weise geschlagen, in Hagen wurde ein Anschlag auf die Synagoge verhindert und im Mai haben wir im Zuge des Konflikts in Israel gesehen, wie unter dem Deckmantel der Israelkritik zu Gewalt gegen Juden aufgerufen wurde und die Versammlungsfreiheit missbraucht wurde für antisemitische Hetze und Hassparolen. Gleichzeitig waren wieder – nur 83 Jahre nach der Pogromnacht – Synagogen das Ziel von Gewaltakten. Die Bilder aus Gelsenkirchen, Bonn, Mannheim und anderen Städten in Deutschland haben uns erschreckt und verstört zurückgelassen.
ABER: Sie haben uns ganz bestimmt nicht überrascht. Seit Jahren weisen wir immer wieder auf die Gefahren hin. Antisemitismus gehört zur traurigen Realität in Deutschland 2021, egal ob im Stadion, in der Schule oder auf der Straße. Wer angesichts dieser Ereignisse im Rahmen von Sonntagsreden immer noch „Wehret den Anfängen“ ruft oder von Alarmsignalen spricht, der hat die Augen vor der traurigen Realität verschlossen und nicht erkannt, dass wir nicht am Anfang stehen, sondern längst mittendrin sind und ein strukturelles Problem haben.
Wie kann es eine Gesellschaft zulassen, dass es im Jahr 2021 Demonstrationen gibt, in denen Querdenker auf perfide Weise den gelben Stern missbrauchen, gleichzeitig ein wilder Mob vor Synagogen in Deutschland israelische Fahnen verbrennt und Juden auf offener Straße angegriffen werden?
Was uns in all diesen Fällen in diesem Jahr aber wirklich schockiert hat war das Schweigen so vieler Menschen. Erneut! Schon wieder! Kein Aufstand der Anständigen, kein kollektiver Aufschrei, keine Lichterkette, keine Montags ( oder Freitags)demonstration, kein Shitstorm in den sozialen Medien, sondern Schweigen; eiskaltes, ohrenbetäubendes Schweigen. Ich weiß nicht ob es ein Schweigen aufgrund von Gleichgültigkeit, Ignoranz, fehlender Zivilcourage oder Ohnmacht war. In jedem Fall war es fehlende Empathie. Und das tut uns weh.
Dabei ist doch eines ganz klar: Antisemitismus bedroht am Ende nicht nur uns Juden sondern all jene, die für eine demokratische und freie Gesellschaft stehen. Und dabei ist es auch ganz egal, ob der Antisemitismus von links, von rechts oder von islamistischer Seite kommt. Doch ist es keinesfalls richtig, aus Angst vor falsch verstandener Toleranz oder political correctness die Augen davor zu schließen, wer für die einzelnen Angriffe jeweils verantwortlich ist. Wer das Problem nicht klar benennt, wird es schließlich auch nie lösen können.
Deswegen braucht es mehr als nur schnell daher gesagte Solidaritäts-Floskeln. Wir brauchen ein entschlossenes Vorgehen der Politik und des Rechtsstaats, eine ebenso entschlossene und verantwortungsvolle Zivilgesellschaft und wir müssen die Erinnerung wach halten, denn der 09.11 ist uns ein mahnendes Beispiel dafür, welche Folgen Untätigkeit, Schweigen und Wegducken haben kann.
Das Schweigen in diesem Jahr hat tiefe Spuren der Unsicherheit in allen jüdischen Gemeinden hinterlassen, denn wir leben ohnehin in einem paradoxen Zustand. Das jüdische Leben in Deutschland war noch nie so bunt, so modern, so vielfältig; aber auch schon lange nicht mehr so gefährdet.
Zu den beschriebenen Problemen kommt eine weitere Gefahr, die schon fast in Vergessenheit geraten ist. In den deutschen Landtagen gibt es mittlerweile mehr als 200 Abgeordnete der AfD, im Bundestag sind es 82. Diese Partei ist längst dabei, sich in der Parteienlandschaft zu etablieren, der Auftritt der Politiker in Talk-Shows ist längst kein Tabu mehr; es scheint fast: wir haben uns damit abgefunden, dass diese Partei rund 10 % der Wählerstimmen erreicht. Bei der Bundestagswahl hat in Sachsen und Thüringen sogar jeder vierte Wähler für die AfD gestimmt. Auch hier scheinen wir mit Gleichgültigkeit und Schulterzucken darauf zu reagieren. Daran dürfen wir uns aber niemals gewöhnen!
Gerade an solchen Gedenktagen müssen wir doch darauf hinweisen, dass die Führung dieser Partei Geschichtsrevisionismus betreibt und immer dreister und skrupelloser versucht, die Fakten zu verdrehen und zu verharmlosen. Wir sind es den Opfern, aber auch uns selber schuldig, immer wieder die Stimme zu erheben und die AfD zu entlarven als das was sie ist: keine Alternative für Deutschland sondern ein Albtraum für Deutschland.
Vor dem Hintergrund der letzten Monate muss an dieser Stelle leider auch gesagt werden: Es ist ein vollkommen falsches und fatales Signal der Stadt Frankfurt, dass aufgrund der kurzfristigen Planung bereits das zweite Jahr hintereinander nicht alle Mitglieder der Jüdischen Gemeinde zu dieser Gedenkveranstaltung eingeladen worden sind. Trotz der Pandemie hätte es Mittel und Wege gegeben, unsere Mitglieder nicht auszuschließen.
Wenn dieser Gedenktag Ernst genommen wird, sollte sich das nicht wiederholen.
Dabei gilt ohnehin: Wir Juden vergessen die Opfer ganz bestimmt nicht; dafür brauchen wir auch keinen Gedenktag. Die Shoa ist Teil unseres kollektiven Gedächtnisses; die persönlichen Erlebnisse unserer Großeltern und ihrer ermordeten Familien und Freunde begleiten uns unentwegt. Buchenwald, das Lager in welches die meisten Frankfurter Juden in der Pogromnacht deportiert wurden, ist auch das Lager, in welchem mein eigener Großvater sieben Jahre später befreit wurde, nachdem er die Todesmärsche überlebt hatte. Wie könnte ich selbst das denn jemals vergessen?
Und trotz aller Gefahren und Probleme gilt: Wir sind gekommen, um zu bleiben.
Wir investieren in unsere Zukunft in Deutschland und in die unserer Kinder. Das erste Mal seit 1939 wurde in der Jüdischen Schule in Frankfurt dieses Jahr ein Abitur abgelegt, als erste deutschsprachige Gemeinde überhaupt hat die Jüdische Gemeinde in Frankfurt in diesem Jahr ein eigenes Familienzentrum eröffnet und der Zentralrat der Juden baut hier im Frankfurt eine Jüdische Akademie; rund hundert Jahre nach Franz Rosenzweig, dem Leiter des Jüdischen Lehrhauses. Das alles sind mutmachende, sind positive Signale, die zeigen, dass wir fest daran glauben, hier eine lebenswerte Zukunft zu haben. Gleichzeitig sind wir in unserem Optimismus ganz gewiss nicht naiv und blauäugig und werden immer – und gerade an solchen Tagen wie heute – laut unsere Stimme erheben und uns mit all unserer Kraft und Entschlossenheit gegen Gefahren aller Art wehren. Es ist zweifellos ein Balanceakt, ein Spagat zwischen Vorsicht und Zuversicht.
Möge er uns gelingen
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