- Juden dürfen keine hochwertigen Medikamente verordnet werden
- Kinderlose jüdische Frauen haben kein Recht darauf, bei der Krankenkasse die Ursachen der Kinderlosigkeit untersuchen zu lassen
- Jüdische kinderreiche Familien erhalten keine Fahrpreisermäßigung mehr
- In der Kriminalstatistik sind jüdische Straftäter besonders hervorzuheben
- Jüdische Schulen erhalten keine staatlichen Zuschüsse mehr
- Juden und ihre Ehepartner dürfen keine Kleingärtner sein
- Juden oder mit Juden verheiratete Zahnärzte werden nicht zur Tätigkeit bei den Krankenkassen zugelassen
- Juden und Personen mit ein oder zwei jüdischen Großeltern werden nicht mehr als öffentlich bestellte Vermessungsingenieure zugelassen
- Die „Judenvermögensabgabe“ wird von 20 auf 25 Prozent erhöht
- Juden dürfen keine Spaziergänge unternehmen
Sehr geehrter Oberbürgermeister Feldmann, sehr geehrter Herr von Schoeler, sehr geehrte Damen und Herren,
innerhalb weniger Stunden entstanden im September 1935 die abscheulichsten Paragrafen der deutschen Rechtsgeschichte – die sogenannten Nürnberger Rassegesetze, in die auch das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes“ eingewebt war! Mit diesen Gesetzen institutionalisierten die Nationalsozialisten ihre antisemitische und rassistische Ideologie auf juristischer Grundlage.
Mit deren Verkündung wurden zwischen 1935 – 1938 für nahezu alle Lebensbereiche Hunderte von Verordnungen erlassen, um Juden auszugrenzen und Ihnen das Leben schwer bis unmöglich zu machen.
Diese Maßnahmen wurden von der Bevölkerungsmehrheit überwiegend akzeptiert und oft begrüßt.
Kommunale Behörden und Berufsverbände wie z.B. die Ärztekammer Hessen-Nassau verschärften diese Verordnungen in vorauseilendem Gehorsam noch zusätzlich – auch hier in Frankfurt am Main.
Propagandaminister Joseph Goebbels wollte einen geschickten, scheinbar legalen Weg gehen, damit ihm auch die bürgerlich-konservativen Milieus beim Diskreditieren der Juden folgen konnten. Hier war das nationalsozialistische Gedankengut in 1935 noch nicht vollends durchgedrungen.
Wie wir heute wissen, war Goebbels perfide Strategie in den darauffolgenden Jahren äußerst zielführend.
Die „legal gewordene“ Diskriminierung trug zu Hass und Gewaltaktionen bei und in gleichem Maße, in dem der Alltag für Juden immer unerträglicher wurde, berauschten sich Nationalsozialisten und mit wenigen Ausnahmen beinahe das gesamte deutsche Bürgertum zunehmend an der Entrechtung, Ausbeutung und Entmenschlichung der jüdischen Bevölkerung.
Schon kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten und der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 befürchtete die Frankfurter Israelitische Gemeinde weitreichende und unheilbringende Konsequenzen.
Am 30. März 1933 wandte sich der Vorstand über das amtliche Gemeindeblatt mit folgendem Appell an seine Mitglieder:
„In diesen schweren Zeiten ist es uns ein tiefes Bedürfnis, ein Wort an unsere Gemeinde zu richten:
Wenn keine Stimme sich für uns erhebt, so mögen die Steine dieser Stadt für uns zeugen, die ihren Aufschwung zu einem guten Teil jüdischer Leistung verdankt, in der so viele Einrichtungen vom Gemeinsinn der Juden künden, in der aber auch das Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Bürgern stets besonders eng gewesen ist.
Verzagt nicht! Schließt die Reihen! Kein ehrenhafter Jude darf in dieser Zeit fahnenflüchtig werden.“
Das Jahr 1938 steht für eine neue Dimension der Gewalt gegen Juden, für den jahrelang vorbereiteten Übergang von Diskriminierung und Entrechtung zur systematischen Verfolgung, Beraubung und Vertreibung.
Die Reichspogromnacht vom 9. November und die beiden darauffolgenden Tage stehen für den singulären Zivilisationsbruch deutscher Geschichte.
Feuerwehr, Ordnungskräfte und Bevölkerung sahen teilnahmslos zu, wie in kürzester Zeit 1.406 Synagogen niedergebrannt und 91 Menschen unmittelbar getötet wurden. Mehr als 30.000 jüdische Männer wurden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt, wo 1.400 von ihnen zu Tode gequält wurden. Einige begingen Selbstmord.
Der 9. November 1938 steht sinnbildlich für fanatische Hemmungslosigkeit und den „point of no return“ bei der wahnhaft gewordenen Verfolgung und schließlich Massenvernichtung von Juden – einem Holocaust mit 6 Millionen Opfern und weiteren 60 Millionen Menschenleben, die der von Deutschland ausgelöste 2. Weltkrieg insgesamt gefordert hat.
Sich nicht mehr mit diesen Verbrechen auseinandersetzen zu wollen, ist keine Option.
Sie sind geschehen und Sie dürfen weder wieder geschehen noch in einem revisionistischen Sinne umgedeutet werden.
Der US-amerikanische Philosoph James Baldwin unterstreicht dies mit folgenden Worten:
„Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen!“
„Geschichte ist nicht die Vergangenheit. Sie ist Gegenwart. Wir tragen unsere Geschichte mit uns. Wir sind unsere Geschichte.“
Aus diesem Grund versammeln wir uns jedes Jahr am 9. November in der Paulskirche und allein die Realität sorgt Jahr für Jahr dafür, dass diese Gedenkveranstaltung viel mehr als nur Ritual ist und eben nicht, zum Schuldkult oder „Gedächtnistheater“ verkommt, wie Rechtspopulisten, die nach 1945 entstandene Erinnerungskultur, gerne bezeichnen.
Es geht auch nicht darum, sich den Juden zuliebe an den 9. November 1938 und was danach geschah zu erinnern.
Es geht im weitesten Sinne um den Erhalt und die Fortschreibung unserer Werteordnung. Es geht um die Bewahrung von Grundrechten und damit inhärent um den Schutz von Minderheiten jedweder ethnischen Herkunft oder Ausrichtung.
Es spricht viel dafür den 9. November stetig zum Anlass zu nehmen, um eine Art Standortbestimmung unseres Landes und unserer Gesellschaft in ihrem Verhältnis zur jüdischen Bevölkerung vorzunehmen.
Das Jahr 2021 markierte, begleitet von unzähligen Bildungs- und Gedenkveranstaltungen, den 1.700sten Jahrestag erster überlieferter jüdischer Spuren auf germanischem Boden. Deutschland begann erst sehr viel später zu existieren.
Das Jubiläumsjahr steht mit 2.738 in Deutschland gemeldeten antisemitischen Vorfällen aber leider auch für den höchsten Anstieg seit Aufzeichnung solcher Vorkommnisse.
Die älteste Form der Judenfeindschaft ist gewiss der religiöse Antisemitismus. Religiöser Antisemitismus entwickelte sich aus der Absolut-Setzung der christlichen Auffassung von Religion, die mit der Ablehnung und Diffamierung aller anderen Glaubensformen einherging.
„Die wüsten Pogrome in Mittelalter und Neuzeit“- so Jürgen Habermas – „zehren von einem christlichen Hass (Zitatende). “
Die moderne Antisemitismusforschung unterscheidet im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Analysen und Präventionsstrategien aber auch zwischen sozialem, rechtem, linkem, muslimischem, politischem, sekundärem, strukturellem, latentem, subtilem, israelbasiertem und post shoah Antisemitismus.
Interessant ist die gegenwärtig zu beobachtende Virulenz des Antisemitismus. Anhand der Querdenker-Bewegung aber auch bei den anti-israelischen Demonstrationen im Mai 2021 ließ sich beobachten, wie Antisemitismus als ideologisches Bindemittel fungiert.
Sehr unterschiedliche Gruppen können sich unter dem gemeinsamen Nenner des Antisemitismus vereinigen.
Eine nicht ganz neue aber in diesem Jahr durch die documenta 15 besonders in den Focus geratene Facette ist, was gemeinhin unter postkolonialem Antisemitismus verstanden wird.
Auf dieses Phänomen möchte ich heute mein Hauptaugenmerk legen.
Um die zahlreichen irritierenden Vorgänge um die Documenta 15 und das, was man in Deutschland unter Freiheit der Kunst versteht, besser einordnen zu können, ist es unausweichlich sich auch mit dieser Art von Antisemitismus auseinanderzusetzen.
Autor und Publizist Sascha Lobo sieht in der Diskussion um die documenta 15 die Offenbarung des größten derzeitigen Problems mit Antisemitismus in Deutschland.
„Es ist eine breite, bürgerliche Antisemitismusakzeptanz von Leuten entstanden, gleich ob sie sich für konservativ, liberal, aufgeklärt oder links halten.
Die Documenta wird von Leuten verantwortet, die Judenhass als Teil von Kunst akzeptieren…. und weil Antisemitismus schon immer eng verwoben war mit der Kunst der absurdesten Ausreden, warum der Hass gerechtfertigt oder sogar geboten sei, verschwimmen Judenhass und Judenhassakzeptanz zu einem antisemitischen Amalgam (Zitatende).“
Ich möchte mir die detaillierte Schilderung des Banners „People’s justice“ von Taring Padi ersparen. Es gibt meiner Meinung nach keine Lesart, nach der dieses Banner nicht antisemitisch ist.
Derart plakativer Antisemitismus braucht zu seiner Dechiffrierung auch kein Expertengremium.
Die Ausrede, die von kuratorischer und künstlerischer Seite bemüht wird, ist für die gegenwärtige Debatte typisch. Sie kommt unter dem Deckmantel vorgeblicher kultureller Unterschiede daher, unterstellt, dass die ausgestellte Bildsprache nur in Deutschland als beleidigend empfunden wird, aber natürlich bedauert man, dass Details des Banners falsch verstanden worden sind und Gefühle verletzt wurden. Das war natürlich nie beabsichtigt.
Es wird deutlich, dass beim Künstlerkollektiv nicht die geringste Einsicht vorhanden ist.
Ein Schwein und ein Teufel mit Davidstern und ein Vampir mit Schläfenlocken: Das sei aus indonesischer Sicht nicht antisemitisch, sondern eben nur aus deutscher.
Die Verantwortung für die merkwürdige Fehlempfindung soll hierdurch von den Künstlern hin zum Publikum verschoben werden.
Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber ich möchte es nochmals deutlich sagen:
Es gibt keine Kultur, in der Antisemitismus in Ordnung ist!
So wie es keine Kultur gibt, in der Frauenhass, Homophobie oder Transphobie akzeptabel wäre.
Es steht zu befürchten, dass die indonesischen Kuratoren, die nach eigenen Angaben gekommen waren, um zu lernen, ohne diese Erkenntnis nach Hause zurückgekehrt sind.
Anders ist der Schlussakkord der Kuratoren, wonach das Werk „People’s Justice“ nun zu einem Denkmal der Trauer über die Unmöglichkeit des Dialogs werden soll, nicht einzuordnen.
Das Denken und die Perspektive postkolonialen Antisemitismus beinhaltet, dass Zionismus mit Kolonialismus gleichzusetzen sei und die Vernichtung des europäischen Judentums ein Genozid wie jeder andere war.
In Gedenkveranstaltungen wie dieser sieht der postkoloniale Diskurs eine Fetischisierung des Holocaust und stellt dessen Singularität in Frage.
Prof. Dr. Wolfgang Reinhard – eigentlich ein renommierter Historiker – befeuert diese These und bezeichnet in seinem am 10.1.2022 in der FAZ erschienenen ganzseitigem Artikel das Holocaust-Gedenken als machtbesetzt und tabugeschützt.
Er fordert das Recht ein, sich nicht erinnern zu müssen und bezeichnet den Holocaust vom Ursprung her als eine zufällige Häufung tragischer Einzelschicksale.
Reinhard gehört zu jenen Kritikern, die meinen, dass die herrschende Holocaust-Gedenkkultur verhindere, sich an andere genozidale Verbrechen – etwa im Zusammenhang mit dem Kolonialismus – zu erinnern.
Der Holocaust würde die Sicht auf kolonialistische Verbrechen versperren!
Erlauben Sie mir eine Randnotiz:
Mir kommt es heute im Gegenteil eher so vor, als bestünde die Gefahr, dass dem gleichfalls an einem 9. November gedachten zweifelsohne freudigen Ereignis der deutschen Wiedervereinigung, mehr Beachtung geschenkt wird als der Reichspogromnacht.
Nicht auszuschließen, dass irgendwann eine nicht mehr vorhandene Mauer den Blick auf den 9. November 1938 versperrt.
Aber zurück zu Prof. Reinhard.
Irritierend wenn nicht gar skandalös ist seine Auffassung wonach (ich zitiere) „von Inhabern der deutschen Deutungshoheit eine ewige Schuld Deutschlands behauptet und juristisch, medial, sozial sowie vor allem moralisch festgeschrieben wird.“ … “Seit den 1970er Jahren sei der Holocaust auch in den USA zu einer sakralen Kategorie geworden.“
Reinhard weiter:
„Um dem bevorstehenden Ausrinnen der Erinnerung durch Zeitzeugen vorzubeugen, wurde hiervon ausgehend Anfang der 90er Jahre ein Impuls zur Umformung des kulturellen Gedächtnisses ausgelöst.“
Grund für diese Umformung sei „die uralte jüdische Erinnerungskultur“, die „durch die Erinnerung an die deutschen Verbrechen inzwischen die Erinnerungskultur der Welt präge (Zitatende).“
Schimmert hier nicht ein altbekannter Mythos durch, welcher den Juden eine ominöse Allmacht zuschreibt?
Sind – zugespitzt formuliert – am Ende die Juden Schuld daran, dass der Kolonialismus der Deutschen in der Vergangenheit nicht genügend analysiert und aufgearbeitet wurde?
Man fühlt sich zwangsläufig an den Historikerstreit von 1986 erinnert, als Ernst Nolte eine zeitgeschichtliche Debatte auslöste, welche die Einzigartigkeit des Holocaust anzweifelte.
Dies geschieht gegenwärtig in vehementer Weise wieder, indem man den Holocaust in die Perspektive, der erst heute wieder in Erinnerung gerufenen Kolonialverbrechen rückt.
Dabei haben Zeithistoriker immer wieder geltend gemacht, dass der Vergleich des Holocaust zu kolonialen Genoziden gerade einen spezifischen Unterschied ignoriere.
Nicht als ob nicht jeder Mord und jeder ermordete Tote, moralisch gesehen, gleich viel zählte.
„Aber aus Sicht des historischen Beobachters“ – so Habermas – „drängt sich ein Unterschied zwischen der mörderischen Grausamkeit der Nazis in der Behandlung von slawischen Zwangsarbeitern im Osten einerseits und der Vernichtung der Juden andererseits auf.
Die einen sind im Zuge des Projekts der rücksichtslosen Gewinnung von Lebensraum als minderwertige Rasse unterdrückt, ausgebeutet und getötet worden, während die deportierten Juden aus dem einzigen Grund, weil sie Juden waren, ermordet wurden.
Diese grundlose und willkürliche antisemitische Radikalität richtete sich nicht nach außen gegen Fremde, sondern gegen innere Feinde. Es waren die eigenen Bürger, die als subversive Gefahr kenntlich gemacht und ausgegrenzt wurden, bevor man sie in die Vernichtungslager deportierte.“
Es ist eben gerade das spezifische Merkmal in der Unterscheidung des Holocaust von kolonialen Genoziden, dass eine Wendung gegen den „inneren Feind“ stattfand, der getötet werden muss – und nicht die fremde, kolonial unterworfene Bevölkerung, um deren Naturschätze auszubeuten.
Im postkolonialen Denken ist das häufigste Argument, um den Holocaust als einen Fall von Kolonialgewalt zu definieren, die Zwangsarbeit.
Tatsächlich beuteten die Nazis Juden massiv als Zwangsarbeiter aus, aber nicht um sie unbegrenzt weiterarbeiten zu lassen. Sie benutzten die Zwangsarbeit als ökonomisch vorteilhafte Methode, sie zu vernichten. Zwangsarbeit war folglich nur eine vorübergehende Phase auf dem Weg zur totalen Vernichtung.
Wenn man dies alles in Betracht zieht, ist eine Gleichsetzung mit Kolonialverbrechen kaum aufrechtzuerhalten.
Nach Saul Friedländer besteht der wahre originäre Kontext zum Holocaust nicht im Kolonialismus, auch nicht allein im Nationalsozialismus, der damals ein eher modernes Phänomen war, sondern – wie zuvor erwähnt – in der jahrtausendelangen Gegnerschaft gegen Juden und Judentum – hervorgerufen durch antijüdische Lehren der katholischen, evangelischen und orthodoxen Kirchen.
In den letzten Jahren haben postkoloniale Theoretiker oft genug den Standpunkt vertreten, dass es sich bei der Staatsgründung Israels um koloniale Landnahme gehandelt habe.
Dabei wird vernachlässigt, dass die eigentlichen Kolonialherren Palästinas das osmanische Reich und nach dem ersten Weltkrieg England waren.
Gleichwohl entstanden dort erste jüdische Siedlungen bereits Ende des 19./ Anfang des 20. Jahrhunderts.
Einerseits handelte sich dabei um junge Menschen, die zwischen 1904 – 1914 das von judenfeindlichen Pogromen heimgesuchte Zarenreich verließen.
Andererseits kamen jüdische Einwanderer aus Europa hinzu, die im osmanischen Reich gleichfalls Flüchtlinge waren. Sie flohen vor dem zunehmenden Antisemitismus in Europa insbesondere dem durch die Dreyfus-Affäre ausgelösten und immer offensichtlicher werdenden französischem Antisemitismus.
Die Tatsache, das jüdische Einwanderer vornehmlich als Flüchtlinge und nicht als „Kolonialherren“ ins osmanische Reich kamen, wird von der postkolonialen Theorie oft ignoriert.
Der Antrieb jüdischer Einwanderer war es gewiss nicht, erwirtschaftete Reichtümer nach Russland oder Frankreich zu reimportieren.
Der französische Antisemitismus wirkte gleichwohl als Katalysator für die Idee eines „Judenstaates“, die Theodor Herzl als Begründer des Zionismus vorantrieb.
Dabei ist es unerlässlich in Erinnerung zu rufen, dass Zionismus eben auch eine progressive und emanzipatorische Bewegung war. Die Vision war es, ein auf sozialistischer Grundlage beruhendes solidarisches Gemeinwesen zu schaffen, in welchem man ohne Privateigentum miteinander lebt – das Modell der Kibbutzim.
Historisch betrachtet stellten die Zionisten bis zum Holocaust eine Minderheit unter den Juden dar.
Überwiegend lehnten sie eine Auswanderung ab und waren sogar zur Assimilation in den jeweiligen Ländern bereit.
Diese historischen Zusammenhänge muss man sich vergegenwärtigen, bevor man sich zu den Vorkommnissen der Documenta 15 eine Meinung bildet.
Es wäre auch wünschenswert, wenn sich so manch eilfertiger BDS-Anhänger geschichtlich fortbildete, bevor er oder sie Israel mit Kolonialstaaten gleichsetzt oder von Israel als Apartheid-Staat redet.
Im Übrigen ist der Begriff Apartheid in Zusammenhang mit Israel auch von Spitzenpolitikern der SPD – allen voran Sigmar Gabriel – bemüht worden und erst kürzlich war die Berliner Bürgermeisterin Franziska Giffey kurz davor der ehemaligen UN – Menschenrechtskommissarin Navanethem Pillay, die „Otto-Hahn-Friedensmedaille zu verleihen.
Ausgerechnet die Südafrikanerin Pillay, die es eigentlich besser wissen müsste, hatte Israel wiederholt Apartheid vorgeworfen. In 2018 behauptete sie in einem Interview, „es gebe in Israel ein System der Rassentrennung“ und forderte Sanktionen.
Die Preisverleihung wurde schließlich kurzfristig abgesagt.
Hatte das Büro von Franziska Giffey schlecht recherchiert oder sollte allen Ernstes ein Signal gesetzt werden, dass Berlin hinter der Delegitimierungs-Politik steht.
Es tut sich eine Parallele zum Verhalten Claudia Roth’s –Staatsministerin für Kultur und Medien auf.
Lange vor Beginn der Documenta 15 wurde sie von zahlreichen Journalisten und Institutionen – darunter der Zentralrat der Juden von Deutschland – darauf hingewiesen, dass sowohl das als Kurator auftretende Künstlerkollektiv Ruangrupa als auch weitere den Kuratoren untergeordnete, aber mit Gestaltungsaufgaben beauftragte Künstlergruppen, eine bedenkliche Nähe zum BDS aufweisen.
Claudia Roth schenkte diesen Hinweisen kaum Beachtung und vertraute nach eigenen Angaben auf ihre Ratgeber im eigenen Ministerium wie Sie auch der Einschätzung der Documenta-Leitung vertraute.
Erst vor wenigen Wochen erhielten Journalisten unter Anwendung des Informationsfreiheitsgesetzes Einsicht in den gesamten Schriftverkehr zwischen der Behörde und der Documenta-Leitung.
Dabei kommt Roth’s Amtsleiter, Andreas Görgen, eine besondere Rolle zu!
Görgen gab eine Leitlinie vor, in der es fast ausschließlich darum ging, dem medialen Druck zu widerstehen und den Ruf der Documenta nicht zu beschädigen.
Eine Einstellung, die selbst dann noch vorherrschte, als im Wochentakt antisemitische Propaganda auf der Kunstaustellung entdeckt wurde.
Görgen’s politisch wie moralisch fragwürdige Prioritätensetzung folgte die Documenta-Leitung – allen voran der Kasseler OB Christian Geselle sowie die Generaldirektorin Sabine Schormann – nur allzu gern.
Erst hierdurch entstand der Documenta der immense Ansehensverlust, der – wenn überhaupt – nur durch glaubwürdige und konsequente Aufarbeitung wieder zu korrigieren ist.
Wie in einer jetzt bekanntgewordenen E-Mail nachzulesen ist, war Görgen sogar bereit, die Zeit des Nationalsozialismus zu bemühen, um die besondere Schutzwürdigkeit der Kunstausstellung vor Eingriffen aus der Politik hervorzuheben.
Die Documenta müsse ihre Tradition, einen internationalen Raum für Kunst zu schaffen, fortsetzen – und jetzt wörtlich – „gerade in einem Land, das sich wie kein anderes an der Freiheit der Kunst vergangen hat“ (Zitatende).
Meint Görgen, dass die vom Zentralrat der Juden geäußerten Bedenken gleichzusetzen sind, mit der in der NS-Zeit verbotenen sogenannten „entarteten Kunst“, die oft nur deshalb als entartet galt, weil sie von jüdischen Künstlern erschaffen wurde?
Es wird offensichtlich, dass sich die Verantwortlichen mit der im Vorfeld der Documenta 15 vorgebrachten Kritik nicht ausreichend beschäftigt haben. Stattdessen wurde diese Kritik mit dem Hinweis auf die deutsche Geschichte und die NS-Kulturpolitik verleumdet.
Was ist zu tun, wenn man mit staatlich toleriertem und gefördertem Antisemitismus konfrontiert wird?
Wie verhält man sich, wenn die Bildungsstätte Anne Frank nach wochenlangem Betreiben eines Informationsstandes auf der Documenta feststellt, dass selbst das Bildungsbürgertum empfänglich ist für NS-Vergleiche, Holocaust-Verharmlosungen und Verschwörungsnarrative?
Wie geht man damit um, wenn der Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde Mahmud Abbas im Kanzleramt in an Einfältigkeit und Widerwärtigkeit nicht zu überbietender Weise von „fünfzig Holocausts“ redet, die Israel an Palästinensern begangen haben soll.
Hier handelt es sich übrigens um keine spontane oder versehentliche Entgleisung. Abbas hatte die Zahl, der in der Shoah ermordeten Juden, schon in seiner vor 40 Jahren verfassten Doktorarbeit auf einige Hunderttausend heruntergerechnet und die zionistische Bewegung faktisch der Kollaboration mit dem Nazi-Regime bezichtigt.
Israel ist um seine designierten Verhandlungspartner im Friedensprozess, wahrlich nicht zu beneiden.
Vielleicht auch ein Grund, weshalb hier in den letzten Jahren keine Fortschritte mehr erzielt werden konnten.
In einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft, ist nur über den Diskurs sowie durch substantiierte wissenschaftliche Forschung, Überzeugungsarbeit zu leisten.
Fanatiker müssen wir hier zunächst außen vorlassen. Die sind zumeist argumentativ kaum zu erreichen. Hier muss allerdings konsequent sanktioniert werden mindestens dann, wenn Gesetzesüberschreitungen festzustellen sind.
Es braucht viele von Bildung, Kultur, Religion, Pädagogik und Erfahrung geprägte intellektuelle Blickwinkel, um gesellschaftliche Fehlentwicklungen einzuordnen und gegenzusteuern.
Je facettenreicher eine Gesellschaft ist, je mehr Stimmen müssen gehört werden.
Mit der Shoah ist Europa und besonders Deutschland der größte Teil jüdischer Bildungselite verloren gegangen.
Die Shoah bedeutete eine jähe Zäsur für Jüdische Lehrhäuser, aber auch für die sozialforschende Frankfurter Schule mit Philosophen wie Horkheimer, Adorno, Benjamin, Erich Fromm und viele mehr.
Aber es gibt Hoffnung!
In Frankfurt befindet sich derzeit eine Institution in Gründung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat an diese Zeiten anzuknüpfen –Die Jüdische Akademie!
Juden und Jüdinnen in Deutschland sollen nicht nur über eine politische Interessenvertretung verfügen, wie sie der Zentralrat darstellt.
Es braucht auch einen Ort und eine Institution für intellektuellen Austausch und der Vermittlung jüdischer Kultur, gerade auch für und mit der nichtjüdischen Gesellschaft.
Es braucht einen jüdischen Ort, der kein religiöser Ort ist!
Die jüdische Akademie will ihren Beitrag dazu leisten, dass die deutsche Gesellschaft, in die sie wirkt, kulturelle und religiöse Pluralität akzeptiert.
Zugleich haben Akademien die Aufgabe, Fragen und Probleme, die in Verbänden, Institutionen oder Parteien aufgrund ihrer Brisanz noch nicht entscheidungsreif sind, im Vorfeld zu diskutieren bzw. Kontrahenten aus verschiedenen Lagern zusammen zu bringen – auch religionsübergreifend.
Sie soll aber auch zu tagespolitischen Ereignissen auf intellektueller Ebene Stellung nehmen.
Sie soll fragwürdigen Vorgängen, wie sie sich bei der documenta 15 ereignet haben oder aber den kruden Theorien eines Prof. Reinhard oder einer Navanethem Pillay, wissenschaftlich profund begegnen.
Dabei ist die im Rahmen eines „Memorandum of Understanding“ im Mai dieses Jahres vereinbarte Kooperation mit der Goethe Universität Frankfurt natürlich auch von außerordentlicher Bedeutung.
Vereinbart wurde u.a. eine Zusammenarbeit auf den Feldern:
– Erforschung der jüdischen Erinnerungskultur
– Lehrmaterialsammlung zu einer „Erziehung nach Auschwitz“
– Ausrichtung gemeinsamer Konferenzen und Seminare
– Veröffentlichung gemeinsamer Publikationen
– Formulierung und Betreuung gemeinsamer Promotionsarbeiten, etc.
Mit der Jüdischen Akademie, dem Jüdischen Museum, dem Fritz-Bauer-Institut und nicht zuletzt der Jüdischen Gemeinde selbst verfügt Frankfurt schon bald über gleich vier Powerhäuser, die angezapft werden können, wenn es um jüdische Erinnerungskultur und deren Umsetzung in zeitgemäße Formate geht.
Abschließend möchte ich anmerken, dass auch das Format und die Handhabung der heutigen Veranstaltung auf den Prüfstand gehört und das nicht nur wegen des immer kürzer werdenden Planungsvorlaufs.
Ich kann den Verantwortlichen der Stadt nur empfehlen, sich diesbezüglich mit einem oder besser allen vorgenannten Einrichtungen auszutauschen – auch um ein breiteres und jüngeres Publikum vielleicht sogar die „digital natives“ zu erreichen.
Wie sagte Ludwig-Börne-Preisträgerin Eva Menasse 2019 hier in der Paulskirche in ihrer Dankesrede:
„Wen erreichen wir noch, wenn wir in der Paulskirche reden. Wen erreichen wir, wenn wir in der FAZ oder in der „Zeit“ schreiben…. Sind die wenigen Hunderttausend, die das Feuilleton der FAZ lesen relevant oder sind es die Millionen von digital natives auf ihren Plattformen und in ihren sozialen Medien?“
Ganz gleich über welches Format oder über welches Medium:
Es ist unabdingbar, die Erinnerung an die Verbrechen und die Vernichtung, welche Juden und Jüdinnen in Frankfurt und anderswo erfahren haben, stets wach zu halten.
Und es ist wichtig zu zeigen, dass die Vernichtung letztlich nicht gelungen ist.
Für den Neuanfang nach 1945 bestand eine elementare Voraussetzung für neues jüdisches Leben in Deutschland:
Das Wachhalten der Erinnerung an die jüdische Geschichte und an die Shoah. Es ist auch heute noch die Grundbedingung dafür, dass Juden wieder in Deutschland leben, jüdische Gemeinden in Deutschland existieren und gedeihen können.
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