Wir sind heute hier, um an die Shoa zu erinnern. Und dabei stellt sich für uns hier in Deutschland eine ganz einfache Frage: Warum eigentlich? Jom Hashoa ist doch ein israelischer Gedenktag. Hier in Deutschland haben wir doch schon den 09. November, an dem wir uns auch hier in der Synagoge getroffen haben. Wir haben den 27.01, an dem wir an die Befreiung von Auschwitz und an die Shoa erinnern. Brauchen wir also wirklich noch einen weiteren Gedenktag? Ich glaube, die Antwort auf diese Frage sagt viel über uns und unsere jüdische Identität aus.
Denn klar ist doch: Unsere Erinnerung wird ganz gewiss niemals verblassen. Wir Juden haben ein zu gutes Gedächtnis. Wir erinnern noch heute an Anlässe, die zum Teil schon dreitausend Jahre zurückliegen. Wie könnten wir dann jemals die Shoah vergessen, die erst vor 80 Jahren mit dem konkreten Ziel stattfand, alle Juden für immer zu vernichten?
Gerade wir, gerade meine Generation, die im Schatten des Leids unserer Großeltern aufgewachsen ist, mit ihren Alpträumen und Wunden, ihren Brüchen und Verletzungen, mit ihren gebrochenen Herzen und mit ihren zerbrochenen Seelen – gerade wir werden doch ganz bestimmt nie vergessen, denn die Shoa ist Teil unserer Familiengeschichte. Erst vor einigen Monaten habe ich anlässlich des 80. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz von meinen Opa erzählt und der Nummer A 3829, die ihm bei seiner Ankunft in Auschwitz in den Arm tätowiert wurde und die sich auch für alle Zeit in meinen Kopf und in meine jüdische Seele eingebrannt hat. Mein anderer Opa war in 6 verschiedenen Konzentrationslagern, er ist am Ende in Buchenwald befreit worden. Als die Deutschen 1939 in Polen einmarschierten war er erst 17 Jahre alt. Eines Tages stürmten plötzlich deutsche Soldaten ins Haus seiner Familie und nahmen ihn einfach mit. Das war der Tag, an dem er seine Eltern und die meisten Geschwister das letzte Mal sah. Er konnte sich nicht einmal von Ihnen verabschieden. 5 seiner Geschwister und seine Eltern wurden nach Auschwitz deportiert und dort vergast. Die jüngste Schwester meines Opas war erst 7 Jahre alt, als mein Opa von seiner Familie entrissen wurde. Auch sie wurde in Auschwitz vergast. Sie hieß Bejle, Jiddisch für Bella; so wie meine Tochter.
Meine Oma ist letztes Jahr gestorben, sie war lange Zeit in einem brutalen Frauenlager in Tschechien. Es wurde dann ein hartes KZ, das auch Dr. Mengele öfter aufsuchte, um grausam zu selektieren. Auch sie konnte sich von ihren Eltern nie verabschieden, auch Ihre Eltern und die meisten Geschwister wurden in Auschwitz vergast. All diese Schicksale trage ich mit mir, jeden einzelnen Tag.
Der Schriftsteller James Baldwin hat den klugen Satz geprägt: „ Die Menschen sind gefangen in ihrer Geschichte. Und die Geschichte ist gefangen in Ihnen“.
Auf uns bezogen bedeutet das: WIR WAREN ZWAR NICHT SELBST IN DER SCHOAH. ABER DIE SCHOAH, SIE IST DOCH IMMER IN UNS.
Die Shoa ist Teil unserer gemeinsamen Geschichte. Jeder von uns wäre damals verfolgt und gejagt worden. Jeder von uns ist zum Glück nachgeboren, aber dennoch vorbelastet. Jeder von uns hat seine Familiengeschichte, an die wir individuell und ganz unterschiedlich gedenken. Aber an Jom Hashoa geht es um das kollektive Gedenken eines ganzen Volkes und es geht um die ganz großen Gefühle, die wir miteinander teilen:
Kummer, Leid, Schmerz, Ohnmacht und Verzweiflung, Trauer.
Die Shoah – das ist ein dunkles Meer voller unendlichen Tränen, ein ganzer Ozean voller tiefer Emotionen.
Wir Juden erinnern heute auf der ganzen Welt zusammen und genau das ist die Besonderheit und Einmaligkeit von Jom Hashoa. Wir erinnern an sechs Millionen Juden, eine nicht zu greifende, nicht zu begreifende Zahl. Kinder, Eltern, Großeltern, ganze Familien, die von den Nazis ausgelöscht und systematisch vernichtet wurden. Wir erinnern an ihre Leben, an ihre Hoffnungen und Träume, die brutal zerstört wurden, Wir erinnern aber auch an die unzähligen Familien und weiteren Generationen, die aufgrund dieses einzigartigen Massenmordes niemals überhaupt geboren wurden. So viel jüdisches Wissen, jüdische Kultur, jüdisches Herz und jüdisches Leben, dass nie existieren konnte und dass uns bis heute so bitter fehlt. Wir erinnern an die Pogrome, die Deportationen, die Konzentrationslager, die Erschießungskommandos, die Gaskammern und Krematorien, an die Todesmärsche, an das dunkelste Kapitel der Menschheit. Die Shoa war der ultimative Ausdruck von Judenhass. Juden wurden nicht verfolgt, um ihnen ihr Land oder ihren Besitz zu nehmen. Juden wurden verfolgt, weil sie Juden waren und jeder einzelne sollte vernichtet werden.
Die jüdische Antwort zu unserer Geschichte lautet: Erinnern. Aber Erinnern ist kein Selbstzweck. Wir erinnern nicht nur, um der Vergangenheit zu gedenken. Wir sind nicht nur durch unsere gemeinsame Geschichte miteinander verbunden, sondern doch vor allem durch unsere gemeinsame Zukunft, die wir selber in der Hand haben. Während die Zahl der Überlebenden sinkt, steigt unsere Verantwortung. Es ist unsere Aufgabe, die Erinnerung wachzuhalten und genau deswegen werden auch heute sechs junge Schülerinnen und Schüler hier sprechen und persönliche Geschichten vortragen. Ich weiß, wie schwierig es ist, hier oben zu stehen und zu reden, ich bedanke mich bei euch im Namen von uns allen für Euren Mut und Eure Bereitschaft, diese Geschichten mit uns zu teilen.
Wir sind heute in unserer wunderschönen Synagoge und einer der Fragen, die mich immer schon sehr intensiv beschäftigt hat, ist die folgende: Wo war Gott während der Shoa? Wie konnte Gott die Shoa zulassen? Es ist eine der zentralen, wenn nicht die zentrale jüdisch- philosophische Frage überhaupt, ich habe hierzu unzählige Bücher gelesen und obwohl sich viele sehr kluge Menschen hierzu Gedanke gemacht haben, muss ich gestehen, dass ich bis heute keine einzige Antwort gefunden habe, die mich auch nur halbwegs überzeugt oder die ich bereit bin zu akzeptieren. Eli Wiesel hat über seine erste Nacht in Auschwitz geschrieben :“ Nie werde ich diese Nacht vergessen, die mein Leben zu einem Albtraum machte. Nie werde ich die Momente vergessen, die meinen Gott und meine Seele ermordeten“.
Anderseits haben viele Juden selbst in den Konzentrationslagern, dieser von Deutschen erfundenen Hölle, ihren Glauben nicht verloren. Mein Opa hat erzählt, dass er und viele andere trotz massiver Unterernährung und großem Hunger sogar im Lager an Jom Kippur gefastet haben.
Viel entscheidender als die Frage „Wo war Gott“ ist allerdings die Frage: „Wo waren die Menschen“? Hierauf gibt es eine erschreckend einfache, aber beschämende Antwort. Menschen haben massenweise geschwiegen, gleichgültig weggesehen, bereitwillig mitgemacht, das Böse zugelassen und die Mörder aktiv und passiv unterstützt. Und viele – viel zu viele – schweigen auch jetzt gerade während der Judenhass von allen Seiten auf uns einschlägt.
Die meisten Überlebenden der Shoa sind nicht mehr da und können nicht mehr sprechen, aber wir sind ihre Stimmen und das verpflichtet uns, zu sprechen. Ihre Erinnerung ist nun unsere Erinnerung, wir sind ihre Augen und ihre Ohren. Und was wir derzeit alles hören und sehen, muss uns alle beunruhigen. Antisemitismus nimmt rasant zu, überall: in Schulen, in Universitäten, in der Mitte der Gesellschaft und in deutschen Parlamenten. In aktuellen Umfragen ist die AfD schon die stärkste Kraft in Deutschland. Eine Partei, die die Erinnerung an die Shoa verfälscht, verharmlost und sogar teilweise verherrlicht. Bei den Wahlen zum deutschen Reichstag im Jahre 1930 erreichte die Partei Hitlers, die NSDAP 18 % der Stimmen; drei Jahre später waren die Nazis an der Macht. Die AfD hat diesmal 20 % der Stimmen erreicht und steigt in Umfragen immer weiter. All dies zeigt:
Nie Wieder bedeutet gleichzeitig zwingend: Nicht weiter so wie bisher. Es muss sich etwas ändern, heute, jetzt, sofort, unverzüglich. Abwarten und Schweigen ist keine Option. Wer schweigt, macht sich mitschuldig.
Wir haben den Überlebenden der Shoa sehr genau zugehört und wir haben vor allem eine zentrale Lektion gelernt, eine kollektive Lehre, die wir aus der Zeit verinnerlicht haben: Wir dürfen und wir werden nie wieder Opfer sein, wir müssen laut sein und laut bleiben, wir müssen stark sein und uns wehren, wir müssen warnen, mahnen und wachsam sein, wir dürfen Schweigen und Gleichgültigkeit niemals akzeptieren. Wir erinnern heute hier zusammen als eine starke, selbstbewusste und lebendige jüdische Gemeinde in Frankfurt. Diese Gemeinde existiert überhaupt nur, weil Überlebende der Shoa die unglaubliche Kraft aufgebracht hat, sich ausgerechnet hier etwas aufzubauen. Trotz aller dramatischen Erlebnisse und erlittenen körperlichen und seelischen Qualen haben sie sich und uns allen eine Zukunft geschenkt. Wir verdanken ihnen alles und Leben und Weiterleben ist unsere Antwort auf den Hass. Wir sind hier, wir bleiben hier und wir kämpfen gemeinsam und entschlossen um unsere jüdische Zukunft. Das ist unsere Verpflichtung, das ist unser Versprechen an alle Opfer der Shoa.
Solche Gedenktage zeigen immer auch, wie wir mit unserer Erinnerungskultur umgehen. Der 09.11 und der 27.01 sind Tage an denen Gedenkveranstaltungen irgendwie in den normalen Alltag gequetscht werden.
Jom Hashoa ist anders. Wer schon einmal an diesem Tag in Israel war und sieht und hört, wie an diesem Tag im ganzen Land für zwei Minuten die Sirenen heulen und alle kollektiv innehalten und trauern, der wird diesen ergreifenden und überwältigenden Moment nie mehr vergessen. Vielleicht ist es zu viel verlangt, so einen Tag des Innehaltens auch hier zu fordern. Andererseits: Wäre ein Tag im Jahr, an dem in ganz Deutschland für zwei Minuten die Sirenen heulen – also auch und gerade in jeder Schule und jeder Universität- wäre ein Tag, an dem im Fernsehen ausnahmsweise einmal keine Casting-Show läuft, sondern Dokumentationen und Filme zur Shoa; wäre so ein Tag nicht viel wirksamer als die vielen nichtssagenden und austauschbaren Sonntagsreden, die am nächsten Tag gleich wieder vergessen sind. Warum eigentlich nicht? Und wo, wenn nicht in Deutschland, dem Land der Täter? Und vor allem: Wann, wann wenn nicht gerade jetzt?
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