Jerusalem, 20. Mai 2016 – Der überraschende Rücktritt des israelischen Verteidigungsministers Mosche (Bugi) Jaalon am Freitag ist nur eine weitere Station auf dem Weg einer innenpolitischen Revolution in Israel. Die Ereignisse überschlagen sich. Jeder Kommentar jetzt kann schon in einer Stunde überholt und veraltet sein. Selbst eine einfache Chronik der Ereignisse läßt sich wegen der Zwischentöne und Seitenhiebe kaum bündeln.
Die Regierungskoalition unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu galt trotz einer einzigen Stimme Mehrheit im Parlament als ungewöhnlich stabil. Zwar scheiterte die Regierung bei einigen Großprojekten, wie der Vergabe von Schürfrechten für die riesigen Erdgasvorkommen vor der Küste im Mittelmeer an Monopolisten. Doch diesen „Erfolg“ konnte die zerstrittene Opposition im Parlament nicht für sich verbuchen. Vielmehr war es das unabhängige Oberste Gericht, das Einwände wegen der Anti-Kartell-Gesetze anmeldete und so die Regierungspläne zu Fall brachte.
Es ist kein Geheimnis, dass Netanjahu bestrebt war, seine knappe Koalition zu stabilisieren und zu erweitern. Doch seine natürlichen Verbündeten aus dem rechten Lager, allen voran Avigdor Liberman der „Israel unser Haus“ Partei, erteilten mit deftigen Beschuldigungen dem Regierungschef immer wieder eine Absage. Der Bruch zwischen Netanjahu und seinem ehemaligen Außenminister Liberman galt als unüberbrückbar.
Netanjahu streckte deshalb seine Fühler in Richtung „Zionistische Union“ aus, einem Parteienbündnis unter der Führung der sozialistischen Arbeitspartei. Wochenlang soll es geheime nächtliche Gespräche mit ihrem Vorsitzenden, Jitzhak Herzog, gegeben haben, um eine „Große Koalition“ auf die Beine zu stellen.
Als diese Kontakte ans Tageslicht kamen, gab es einen Aufschrei der Empörung und Abscheu im rechten wie im linken Lager. Die Verbündeten Netanjahus befürchteten eine Aufgabe ihrer nationalistischen Werte und einen „Linksrutsch“ Netanjahus. Derweil wurde Herzog von seinen eigenen Parteigenossen des Verrats bezichtigt. Sein „Griff nach Macht und Posten“ wurde als selbstsüchtige Überschätzung seiner mangelnden Führungskraft verunglimpft. Einige Mitglieder des Parteienbündnisses riefen zum Rücktritt Herzogs auf und drohten mit ihrem Austritt aus dem „Zionistischen Lager“. Dazu gehörte Zipi Livni, die ehemalige Außenministerin und Vorsitzende der „Tenua-Partei“ (Bewegungspartei), der kümmerliche Restposten der einst allmächtigen, von Ariel Scharon geschaffenen, Kadima-Partei.
Bei Umfragen zerschellte das zionistische Lager wegen der Annäherung Herzogs an den so verhassten „Rechtsnationalisten“ Netanjahu.
Derweil passierten kleine Ausrutscher, denen keine übermäßige Bedeutung beigemessen worden ist. Zwischen Netanjahu und seinem treuen wie fähigen Verteidigungsminister kam es zu öffentlich ausgetragenen „Meinungsverschiedenheiten“. So stellte sich Jaalon hinter einen General, der am Holocaustgedenktag vor Entwicklungen in Israel warnte, die ihn an die Ereignisse in Deutschland in den 30er Jahren erinnerten. Jaalon behauptete, dass auch Militärs ihre Meinung äußeren dürften und sollten, während Netanjahu über diesen Vergleich mit der Nazizeit tobte. Jaalon war auch verärgert über Netanjahus vorschnelle Verurteilung jenes Soldaten, der in Hebron einen am Boden liegenden verletzten palästinensischen Terroristen (Messerstecher) mit einem Kopfschuss getötet hat. Netanjahu sah darin einen Verstoß gegen die hehren Werte der israelischen Armee, während Jaalon von Netanjahu erwartet hätte, erst einmal eine gerichtliche Untersuchung des Vorfalls abzuwarten und nicht voreilig die ganze Armee zu beleidigen. Es gab einen offenen Vertrauensbruch zwischen beiden führenden Politikern Israel. Doch ihre Differenzen wurden dann in einem „klärenden Gespräch“ ausgeräumt. Immerhin gilt Jaalon als gradliniger und „vernünftiger“ Politiker mit langer Militärkariere, der den Gazakrieg umsichtig und behutsam im vollen Einklang mit Netanjahu geführt habe. So war es Jaalon, der zusammen mit der „gemäßigten“ Militärspitze einen verlustreichen Einmarsch in den Gazastreifen und eine Absetzung der dortigen Hamas-Regierung verhindert hat. Das vermeintlich so rücksichtslose und brutale Vorgehen der israelischen Armee gegen den Gazastreifen wird in Israel anders gesehen, als in europäischen Medien.
Plötzlich machte Netanjahu eine Kehrtwende, die wieder alles auf den Kopf stellte. Er hatte Avigdor Liberman ein Ultimatum gesetzt und ihm den Posten des Verteidigungsministers angeboten. Liberman stimmte zu und war plötzlich gewillt, ins Regierungslager zu wechseln.
Das war für Jaalon ein unerträglicher Affront und besiegelte seinen Bruch mit dem Regierungschef. Netanjahu habe in einem Telefongespräch, das weniger als eine Minute andauerte, Jaalon den Posten des Außenministers angeboten. Doch der verweigerte sich und verkündete Stunden später, am Freitagmorgen, per Facebook und Twitter seinen Rücktritt.
Jaalon will eine „Auszeit“ nehmen und gibt deshalb auch seinen Sitz in der Knesset auf. Gleichwohl will er seinen Dienst am Volk und für das Land nicht aufgeben und sich weiter für ein jüdisches, demokratisches und liberales Israel einsetzen. Jaalon will sich um die Führung des Staates bewerben. Bei seinem live über alle elektronischen Medien übertragenden Statement an das Volk deutete er so sein Bestreben an, Netanjahu zu ersetzen.
Jaalon erklärte weiter, dass es dank seiner umsichtigen Politik gelungen sei, den Gazakrieg und die jüngste Gewaltwelle der Palästinenser in den Griff zu bekommen. Gleichzeitig hätten gefährliche und radikale Kräfte die Likudpartei übernommen und sich im Staat breitgemacht. Das sei nicht mehr die Partei, der er sich einst angeschlossen habe.
Den von Jaalon geräumten Abgeordneten-Sitz wird Jehuda Glick einnehmen. Der gehört zur Gruppe von Extremisten, die jüdische Gebete auf dem (muslimischen) Tempelberg befürworten und den Bau eines jüdischen Tempels anstelle des Felsendoms und der El Aksa Moschee anstreben. Im Oktober 2014 versuchte ein Palästinenser, Glick zu erschießen. Doch er wurde nur schwer verletzt und überlebte. Wegen seines Platzes auf der Parteiliste des Likud füllt er automatisch Jaalons freiwerdenden Sitz in der Knesset. In arabischen Medien macht Glicks Einzug ins Parlament größere Schlagzeilen als der Rücktritt des Verteidigungsministers Jaalon.
Sacha Stawski
http://www.timesofisrael.com/the-winners-and-the-losers-in-the-emerging-coalition-shake-up/