Haaretz: Kalte Relevanzhierarchien

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Haaretz: Kalte Relevanzhierarchien

HonestReporting Media BackSpin, 18. April 2012

Haaretz-Herausgeber Amos Schocken (rechts im Bild) erklärt, warum sein Blatt dem japanischen Tsunami mehr redaktionelle Bedeutung beimaß als dem Massaker an der Familie Fogel, das am selben Tag stattfand.

„Die Aufgabe einer Zeitung, so wie ich sie verstehe und Haaretz all diese Jahre, schon bevor ich die Leitung dieses Blattes übernahm und auch, als mein Vater noch dort war […] besteht nicht darin, Emotionen und Gefühle zu befördern, sondern die Leser über die wichtigen Dinge zu informieren. Dies bedeutet eine gewisse Hierarchie in der Wichtigkeit.

„Bei allem Respekt für die Familie in Itamar, wenn Sie diese Veranstaltung vergleichen, die sehr gravierend war – es war nicht das erste Mal, dass Palästinenser Israelis ermordeten….es war ein schockierender Fall….auch andere wie zum Beispiel der, als ein Vater und sein Sohn in ihrem Auto ermordet wurden. Solche Dinge passieren. Und wenn das mit der Bedeutung des Tsunami in Japan vergleicht: bei allem Respekt für unsere Identifikation mit der Familie in Itamar ist dies ein Ereignis, das viel bedeutsamer ist.

„Die Aufgabe von Haaretz besteht auch darin, eine Perspektive dafür zu geben, wie wichtig die Ereignisse in dieser Welt sind, in der wir leben“, fuhr Schocken fort. „Worin also besteht die Aufgabe einer Zeitung letztendlich? Dem Leser ein Abbild von Wirklichkeit zu vermitteln, das so wahrheitsgemäß wie möglich an der Realität angelehnt ist. Natürlich sind unsere Gefühle mit den Opfern des Tsunami in Japan und natürlich auch mit der Familie in Itamar, und selbstverständlich war es ein grauenhafter Mord.

„Wenn man die beiden Ereignisse bezüglich ihrer wirklichen Relevanz abwägt, dann sind sie – bei allem Respekt – nicht vergleichbar. Beim Tsunami in Japan kamen nicht nur mehr Menschen ums Leben, sondern es handelt sich dabei auch um ein Ereignis, dessen Bedeutung darüber hinaus geht, wie viele Menschen zu diesem Zeitpunkt davon betroffen wurden.“

Was meint Schocken mit „bei allem Respekt“ für die „Identifikation mit der Familie in Itamar“ durch Haaretz?

Auch wenn der journalistische Beruf ein gewisses Maß an Distanz zu Geschichten erfordert, gibt es doch einen Unterschied, wie Zeitungen lokale und  internationale Nachrichten verarbeiten.

Das liegt zum Teil daran, dass Blätter für die Berichterstattung in ihrer Region den Zugriff haben müssen. Das macht das Alleinstellungsmerkmal jeder Tageszeitung aus. Ist also zum Beispiel die Frage erlaubt, wie die Orlando Sentinel den Fall Trayvon Martin behandelte? (Niemand schert sich darum, wie Haaretz darüber berichtet)

Aber noch wichtiger ist, dass Redakteure ihre Kernthemen kennen und sich mit ihnen befassen – also für die Leser im Einzugsgebiet der Zeitung. Als Israel durch die brutale Ermordung dreier kleiner Kindern und deren Eltern erschüttert wurde, sah Haaretz seine Aufgabe darin, sich als internationales Nachrichtenaggregat aufzuspielen.

Wenn Schocken sagt, dass seine Zeitung nicht anders berichtet als der Rest der westlichen Medien, wofür braucht man dann Haaretz noch?

(Schocken-Foto via YouTube)


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