Israels ethische Bauchschmerzen

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 Jerusalem, 1. Juli 2008 – Kein anderes Thema erregt die Israelis so sehr wie das Schicksal verschollener Soldaten. Um sie frei zu bekommen ist der Staat Israel bereit, sogar gegen die ureigenen Interessen zu verstoßen.
Dieser Tage ist unter Vermittlung des BND-Vize Gerhard Konrad ein Gefangenenaustausch zwischen der Hisbollah und Israel perfekt gemacht worden. Es geht da nicht nur um die beiden 2006 in den Libanon verschleppten Soldaten Ehud Goldwasser und Eldad Regev, sondern auch um den 1986 über Libanon lebendig abgesprungenen und später spurlos, vermutlich in Richtung Teheran, verschwunden Phantom-Navigator Ron Arad. Mit ägyptischer Vermittlung laufen indirekte Verhandlung über den von der Hamas in den Gazastreifen entführten Soldaten Gilad Schalit. Der hat erst kürzlich einen Brief an seine Eltern schreiben dürfen.
Auf Außenstehende wirkt das Verhalten Israel, der Bevölkerung wie der Regierung, völlig übertrieben. Israel scheint bereit zu sein, jeden Preis für ein paar Soldaten zu zahlen. Der „zweite Libanon-Krieg“ von 2006 wurde gar damit gerechtfertigt, „nur“ zwei Soldaten zu befreien. In keinem anderen Volk oder Land wäre derartiges denkbar.
Ein Grund dazu liegt in alter jüdischer Tradition. Um „Gefangene auszulösen“, sind jüdische Gemeinden seit jeher angehalten, jeden Preis zu zahlen. Im Judentum gilt ein Menschenleben als „höchster Wert“. „Eine Seele zu retten, bedeutet, die ganze Menschheit zu erlösen“, lautet die jüdische Steilvorlage für moderne Menschenrechte.
Ein weiterer Grund für Israels übertriebene Opferbereitschaft liegt im Selbstverständnis seiner Armee. Die hohe Motivation israelischer Soldaten, höchste Risiken einzugehen, wird damit begründet, dass jedem Soldaten gewiss sei, unter allen Umständen wieder heim geholt zu werden, möglichst lebendig, aber notfalls auch tot, um ein „jüdisches Begräbnis“ zu erhalten. Der israelische Soldat kämpft mit der Gewissheit, niemals im Stich gelassen zu werden. Das Judentum kennt keine Leichenverbrennung und glaubt an eine Wiederauferstehung der Toten am Ende der Tage. Deshalb legt das Judentum seit biblischer Zeit Wert auf eine „komplette“ Beerdigung, bei der kein Körperteil fehlen darf. Für Juden war deshalb die Leichenverbrennung in den Krematorien der Vernichtungslager ein doppeltes Unglück: In den KZ wurden sie nicht nur ermordet. Ihnen wurde posthum die Chance auf Wiederauferstehung genommen. Deshalb ist Israel bereit, auch für tote Soldaten einen extrem hohen Preis zu zahlen.
Im Widerspruch zu seiner offiziellen Politik gegenüber Iran mitsamt Boykottaufrufen, hat Israel seit 1986 alle Mittel eingesetzt, um Informationen über das Schicksal Ron Arads aus Teheran zu erhalten. Das Thema wurde bei jedem Staatsbesuch vor Allem deutscher Politiker angesprochen, weil Berlin bekanntlich enge Kontakte zum Iran pflegt.
Weder mit der Hisbollah noch mit der Hamas will Israel reden, weil sie „Terrororganisationen“ seien, die Israels Auslöschung anstreben. Gleichwohl hat der Staat diese Grundsätze mehrfach außer Kraft gesetzt, wenn es darum ging, Soldaten heimzuholen. Israel war gezwungen, blutrünstige Massenmörder, die eigentlich „lebenslänglich“ ihre Strafe absitzen sollten, im Tausch für verschleppte oder getötete Israelis in Feindeshand freizulassen. In manchen Fällen war ihnen klar, dass die Freigelassenen zurückkehren und erneut morden würden. Auch der jetzt ausgehandelte Tausch mit der Hisbollah, wobei unklar ist, ob Libanon lebende Soldaten oder Särge abliefern werde, ist für Israel ein unerträglicher ethischer Balanceakt. Einer der schnödesten Terroristen und Mörder, Samir Kuntar, soll freikommen.
Denn wenn Israel seinen Feinden, die nicht einmal völkerrechtlich vorgeschriebene Gefangenenbesuche des Roten Kreuzes zulassen, fast jeden Preis zahlt, öffnet es Tor und Tür für künftige Entführungen und weitere Erpressung.
In Israel wird das alles leidenschaftlich diskutiert. Die lange Kabinettssitzung zu diesen ethischen, moralischen und praktischen Folgen eines unproportionalen Gefangenenaustauschs wie auch die überwiegende Ministermehrheit für den ausgehandelten Deal mit der Hisbollah beweist zeugt von einer schweren Gewissensprüfung, zumal jedes Lebenszeichen von den im Libanon verschollenen Soldaten fehlt.
Die bewusste eigene Schwäche und daraus folgende Erpressbarkeit wird freilich auch als wahre Stärke des jüdischen Staates gesehen. Denn nur wenn Israel für jeden seiner Bürger gerade steht, komme er seiner Verpflichtung als Staat und Refugium für alle Juden der Welt nach. Im Widerspruch dazu nimmt Israel in Kauf, dass mit diesen Schritten wiederum Menschenleben gefährdet werden: ein unlösbarer moralischer Widerspruch, dem sich israelische Regierungen wiederholt stellen mussten.

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