Jerusalem, 18. November 2011 – „Kein Mensch redet über Iran. Wir haben andere Sorgen: die hohen Preise, der Ärztestreik. Iran ist absolut uninteressant. Eher schon interessieren uns die Raketen der Hamas aus dem Gazastreifen, weil da halt Bekannte direkt betroffen sind.” Was der Musiker Dov E. im sagt, entspricht den Ansichten anderer Israelis, befragt im Supermarkt beim Einkaufen oder im Bus. „Viel schlimmer ist, dass diese verdammte Straßenbahn schon in der Probezeit wegen Streik ausfällt”, sagt ein wartender Jerusalemer Bürger an der Bushaltestelle. Tagesgespräch ist natürlich das erste Interview des zu sieben Jahren Gefängnis verurteilten „Vergewaltigers Nummer eins”: Mosche Katzav, einst „Bürger Nummer eins” und Staatspräsident. Würdelos schluchzte er ins Mikrophon, völlig unschuldig von den Medien „öffentlich hingerichtet” worden zu sein.
Auch in den stündlichen Radionachrichten und Zeitungen überschattet ein seit Wochen andauernder Ärztestreik die ausländischen Schlagzeilen zu einem vermeintlich schon geplanten israelischen Militärschlag gegen Iran. Nicht die von Irans Präsident Ahmadinedschad angedrohte „Apokalypse” im Falle eines israelischen Präventivschlags beherrscht die Stimmung in Israel, sondern vielmehr die „Apokalypse” in Israels Krankenhäusern. Hunderte Ärzte haben ihre Kündigung eingereicht wegen zu niedriger Löhne und zu vielen Überstunden wegen Stellenmangel im öffentlichen Krankenwesen. „Netanjahu sollte Ärzte aus Indien importieren”, titelte am Freitag das Massenblatt Jedijot Achronot, während die Meldung über eine „Anhaltende Störung des iranischen Raketenprogramms infolge der Explosion in einem Militärlager bei Teheran”, nur klein erschienen ist.
Im Radio angekündigtes Sirenengeheul, um deren Funktionstüchtigkeit zu prüfen, der Testabschuss einer neuen Jericho-Rakete, laut ausländischen Quellen mit einer Reichweite von 7.000 Kilometern, und groß angelegte Übungen für den Ernstfall eines Giftgasangriffs, eines Erdbebens oder sonstiger Schreckensszenarios sind in Israel Routine.
Seit Jahren lebt der Israeli im Zustand eines ständigen Ernstfalles. Daran erinnern die Sicherheitsleute vor jedem Supermarkt und Restaurant. Die werfen einen flüchtigen Blick in die Taschen und fahren Routinemäßig mit einem Metalldetektor über den Rücken des Gastes. Eine „vergessene” Einkaufstasche bleibt nur wenige Minuten lang an der Bushaltestelle liegen. Dann rücken schon die Feuerwerker an. Gesperrte Straßen wegen „suspekten Objekten” sind ein gewöhnlicher Anblick und werden im Verkehrsfunk nur dann gemeldet, wenn wichtige Verkehrsadern betroffen sind und sich kilometerlange Staus bilden.
Es scheint, als ob ausländische Korrespondenten größere Panik empfinden denn „normale” Israelis. Deren Berufsvereinigung forderte vom Presseamt, auch an Journalisten mit fremdem Pass Gasmasken auszuteilen. Seit dem ersten Irak-Krieg von 1991, als Saddam Hussein gedroht hatte, mit Giftgas bestückte Scud-Raketen auf Israel abzuschießen, liegen braune Pappkartons mit Gasmaske und Anthropinspritze in jeder israelischen Wohnung bereit.
Ob Israel den Iran militärisch angreifen will, lässt sich anhand von Äußerungen führender Politiker nicht ermitteln. Die Formel „Alle Optionen liegen auf dem Tisch”, kann Säbelrasseln sein.
Verteidigungsminister Ehud Barak hatte vor einigen Tagen gesagt, dass „noch kein Beschluss gefasst worden” sei. Dann aber leistete er sich einen verbalen Schnitzer im kanadischen Fernsehen. Sinngemäß äußerte er „Verständnis” für das iranische Streben nach einer Atombombe. Später behauptete Barak, „missverstanden” worden zu sein.
Behauptungen, wonach der Mossad die große Explosion im Raketenwerk bei Teheran ausgelöst habe, wobei der Chef des Schihab-Raketen-Projekts, General Hassan Tehrani Moqaddam, getötet worden sei, wurde von den Israelis als übliche orientalische Verschwörungstheorie belächelt und dann vom Iran dementiert. Berichte, wonach die Amerikaner dem Iran drohen, ab 2012 Israel nicht mehr bändigen zu wollen, falls Teheran sein Atomprojekt fortsetze, werden ebenso zur Kenntnis genommen, wie die Meldung von „Daily Beast” (Tägliches Biest), dass Israel Milliarden Dollar in elektronische Kriegsführung investiert habe, um den Iran im Falle eines Angriffs „blind” zu machen. Die offizielle israelische Haltung, wie sie Staatspräsident Schimon Peres in teilweise falsch zitierten Interviews geäußert hat, lautet immer noch: Die Weltgemeinschaft habe Israel versprochen, Iran an der Entwicklung einer Atombombe zu hindern. Dieses Versprechen müsse eingelöst werden, mit Sanktionen, diplomatischen Demarchen und schlimmstenfalls militärisch. Peres hatte nicht gesagt, dass Israel das tun wolle oder werde.
In einer schriftlichen Erklärung ließ Premierminister Benjamin Netanjahu der Knesset (Parlament) seine Sicht zum Report der Wiener Atombehörde IAEA mitteilen: „Jede verantwortliche Regierung muss die notwendigen Schlüsse ziehen. Die internationale Gemeinschaft muss den iranischen nuklearen Wettlauf rechtzeitig stoppen. Dieser Wettlauf bedroht weltweit den Frieden.” Während israelische Experten und Politiker vor „katastrophalen Folgen” eines israelischen Alleingangs warnen, erklären andere, dass die Regierung eine Vielzahl von Elementen abwägen müsse. Neben technischen und geographischen Hindernissen und der Problematik, dass ein Schlag gegen Iran ohne amerikanisches Einverständnis kaum denkbar sei, müssten auch andere politische wie militärische Wirklichkeiten bedacht werden. So könnte Iran seine Verbündeten Hisbollah im Libanon und Hamas im Gazastreifen animieren, ganz Israel mit Raketensalven einzudecken. Syrien, ebenfalls ein Verbündeter des Iran, könnte mit Raketen ebenso rücksichtslos gegen Israels Zivilbevölkerung vorgehen, wie es das Assad-Regime gegen die eigene Bevölkerung tut.
Abschließend sei noch erwähnt, dass Israel in der Vergangenheit Überraschungsangriffe niemals vorher angekündigt und den Feind auch nicht informiert, wie, wann und wo es angreifen werde.
(C) Ulrich W. Sahm
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