Gedenken an den 9. November 1938 München, 9. November 2020
– Es gilt das gesprochene Wort –
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
haben Sie vielen Dank für Ihre einführenden Worte, die uns in diesem besonderen Jahr noch mehr bedeuten als in der Vergangenheit. Sie haben sich auch heuer, und auch unter den aktuell erschwerten Umständen, mit derselben Hingabe für das Gedenken am heutigen 9. November eingesetzt wie schon in den Vorjahren. Dafür danke ich Ihnen!
Es schmerzt mich sehr, dass wir 2020 nicht wie sonst im Alten Rathaus zusammenkommen können: am historischen Ort, an jener Stelle, von der aus die sogenannte „Reichskristallnacht“ heute vor 82 Jahren ihren Anfang nahm. Der Saal, in dem einst die Führungsriege der Nationalsozialisten die Gewalt entfesselte und das Tor nach Auschwitz aufstieß, ist alljährlich der Ort unseres gemeinsames Gedenkens – und unsere Erinnerung an die Opfer jener Barbarei.
Er kann das in diesem Jahr nicht sein, denn die Gesundheit geht natürlich vor.
Aber: Ich hoffe, dass wir die aktuelle Herausforderung überwinden und diesen Gedenktag im kommenden Jahr wieder wie gewohnt begehen können: Gemeinsam, vor Ort, und vor allem: Mit vielen Gästen. Mit Ihnen – mit den Münchnerinnen und Münchnern!
Und ich weiß, dass wir auch dann wieder einen Partner in Ihnen haben werden, sehr geehrter Oberbürgermeister.
Sehr geehrter Herr Dr. Heusler,
sehr geehrter Herr Prof. Dr. von Cranach,
liebe Zuschauer,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
der große israelische Historiker und Überlebende des Holocaust Saul Friedländer sprach in einer Rede im Oktober des Jahres 2007 am Beispiel von Briefen seiner eigenen Eltern, die beide in Auschwitz ermordet wurden, über die Eindringlichkeit von Zeugnissen aus der Zeit zwischen 1933 und 1945.
Die Zitate aus den Briefen schloss Friedländer mit den folgenden Worten ab:
„Sechzig Jahre sind vergangen, seit diese und zahllose andere Stimmen zu vernehmen waren. Und doch berühren sie uns, mag auch noch so lange Zeit verstrichen sein, mit einer ungewöhnlichen Stärke und Unmittelbarkeit, die weit über die Grenzen der jüdischen Gemeinschaft hinaus fortwirkt und die große Teile und mehrere Generationen der abendländischen Gesell-schaft bewegt hat. Wenn wir diesen Schreien lauschen, dann haben wir es nicht mit einem ritualisierten Gedenken zu tun, und wir werden auch nicht durch kommerzielle Darstellungen des Geschehens manipuliert.
Vielmehr erschüttern uns diese individuellen Stimmen infolge der Arglosigkeit der Opfer, die nichts von ihrem Schicksal ahnten, während viele rings um sie das Ergebnis kannten und manchmal an seiner Herbeiführung beteiligt waren.
Vor allem jedoch bewegen uns die Stimmen der Menschen, deren Vernichtung bevorstand, bis auf den heutigen Tag gerade wegen ihrer völligen Hilflosigkeit, ihrer Unschuld und der Einsamkeit ihrer Verzweiflung. Diese Stimmen bewegen uns unabhängig von aller rationalen Argumentation, da sie den Glauben an die Existenz einer menschlichen Solidarität stets von neuem einer Zerreißprobe aussetzen und in Frage stellen.“
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
die Stimmen, von denen Friedländer spricht, liegen heute nicht mehr sechzig, sondern schon weit über siebzig Jahre zurück. Ihrer zu gedenken, ist seit vielen Jahrzehnten unser Anliegen und unsere Verpflichtung.
Dafür kommen wir am 9. November, aber auch an vielen anderen Tagen der Erinnerung zusammen: Um den Überlebenden, aber auch uns selbst und schließlich den jungen Menschen – den nachfolgenden Generationen, die die Verantwortung einst erben werden – diesen Grundpfeiler unserer Gesellschaft näherzubringen. Wir versammeln uns, um immer wieder, mit erneuerter Kraft und mit lauter Stimme zu sagen: Wir vergessen nicht.
Wir vergessen nicht, wie die jüdische Gemeinschaft in Deutschland zwischen 1933 und 1945 ausgegrenzt, ausgeraubt und schließlich beinahe ausgelöscht wurde.
Wir vergessen nicht, wie heute vor 82 Jahren auch hier in München die Scheiben klirrten, wie die Synagoge brannte und wie jüdische Menschen misshandelt, verschleppt und ermordet wurden.
Wir vergessen nicht, wie jüdischen Familien in München und in ganz Deutschland nach 1933 die Luft zum Atmen genommen wurde. Wie die Nationalsozialisten ihnen die Lebensgrundlagen entzogen, bis ehemals stolze bürgerliche Existenzen bettelarm und verzweifelt waren.
Wir vergessen nicht die jüdischen Münchner, die das NS-Regime deportiert und ermordet hat. Ihre Namen sind hier, im Gang der Erinnerung, aufgezeichnet. Jeder, der sich vom Gemeindezentrum unserer Kultusgemeinde in die Hauptsynagoge bewegt, passiert sie: 4500 Namen. 4500 Leben.
Wir vergessen nicht den unbegreiflichen, glühenden Hass, der all das antrieb und der immer neue Abgründe der Unmenschlichkeit auftat – und bis heute auftut.
Wir vergessen nicht die Verbrechen der Nationalsozialisten gegenüber denen, die am wehrlosesten waren und die sich nicht verteidigen konnten. Wir erinnern an diese Menschen, um noch einmal mit Friedländer zu sprechen, in ihrer völligen Hilflosigkeit, ihrer Unschuld und der Einsamkeit ihrer Verzweiflung.
Daher gedenken wir in diesem Jahr am Gedenktag 9. November besonders der jüdischen Patienten in Heil- und Pflegeanstalten und Behinderteneinrichtungen, die dem Wahn der Nationalsozialisten zum Opfer fielen.
191 von ihnen – Männer, Frauen und Kinder – wurden am 20. September 1940, vor etwas mehr als 80 Jahren also, an die Bahnrampen der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar getrieben und in Züge gepfercht, die sie ins österreichische Hartheim brachten. Dort wurden sie sofort nach ihrer Ankunft mit Kohlenmonoxid ermordet.
Verehrte Zuhörer,
wenn wir heute von solchen Episoden hören, in denen uns die ganze Grausamkeit der nationalsozialistischen Tyrannei begegnet, stellt sich vielen von uns die Frage: Wie konnte das geschehen? Warum gab es kein Einschreiten und keine Solidarität, aber vor allem: Wie konnte es sein, dass Menschen zu solchen Untaten überhaupt fähig waren?
Die Antwort auf diese Frage, die wir uns leider auch in der Jetztzeit immer öfter stellen müssen, ist in den über siebzig Jahren seither stets dieselbe geblieben: Es ist Hass. Genauer gesagt: Judenhass.
Dieser Hass ist seitdem stets derselbe geblieben. Er betäubt das menschliche Mitgefühl heute noch ebenso potent wie vor sechzig, siebzig oder auch achtzig Jahren.
Auch in der Gegenwart müssen wir erleben, wie dieser Hass eine Schneise der Zerstörung durch unsere Städte zieht; wie er unsere Gesellschaft vergiftet; wie er die Grundlagen unseres Zusammenlebens mehr und mehr gefährdet.
Einige wenige Namen genügen, um das Ausmaß des Problems heute zu verdeutlichen. Denken wir an Hamburg; an Dresden; an Paris; an Nizza und natürlich an Wien. Denken wir an Kassel, an Halle und an Hanau. An Christchurch, Pittsburgh und Poway.
Überall begegnen uns extremistische Attentäter, denen ihr Hass den Blick auf die Realität verstellt. Überall begegnen uns jene, die kein Miteinander kennen, sondern nur ein gewaltsames Gegeneinander.
Diese Menschen glauben heute, im Namen einer großen „schweigenden Mehrheit“ zu handeln oder irgendeine andere Legitimation zu haben.
Zum Glück könnte nichts falscher sein: Die Extremisten und Mörder von heute handeln und sprechen nur für sich selbst. Die Mörder von heute handeln nicht im staatlichen oder gesellschaftlichen Auftrag – so, wie das Pflegepersonal in Eglfing-Haar es im September 1940 tat. Die Täter von heute verlieren ihren moralischen Kompass und ihr Gewissen ganz allein.
Sie sind Feinde und Gegenbilder unserer Gesellschaft, die für Offenheit, für Toleranz und für Respekt einsteht.
Doch diese Überzeugungen sind nicht in Stein gemeißelt. Wir haben schon einmal gesehen, wie aus einer freien und demokratischen Gesellschaft eine der schrecklichsten Diktaturen entstand, die die Welt je gesehen hat. Das geschah nicht über Nacht, sondern peu à peu. Steter Tropfen höhlte damals einen schon zu Beginn sehr weichen Stein.
So weich ist, um im Bilde zu bleiben, unsere heutige Gesellschaft nicht. Aber auch heute erleben wir, wie immer mehr Menschen genau die Werte zurückweisen und bekämpfen, denen wir unser Zusammenleben in Frieden, Freiheit und Wohlstand verdanken. Wir erleben, wie politische Parteien, aber auch Individuen Hass statt Respekt wählen, Beleidigung statt Gespräch, Gewalt und sogar Mord statt Austausch.
Die jüdische Gemeinschaft bleibt unverändert primäres Ziel für alle diese Gruppierungen – ganz egal, aus welchem Teil des Spektrums sie kommen. Ob rechts- oder linksextrem oder Islamisten: Der Judenhass als kleinster gemeinsamer Nenner bleibt.
Das spürt die jüdische Gemeinschaft auch in München sehr deutlich. Einschüchterungsversuche durch einen rechtsextremen Gefährder; physische Übergriffe und Beleidigungen, wie der
Oberbürgermeister sie eben schon erwähnt hat; und immer wieder Berichte von Angriffen und Anschlägen in Deutschland und aller Welt.
Verehrte Zuhörer,
Saul Friedländer sprach in seiner Rede auch von einem „ritualisierten Gedenken“, das es zu vermeiden gelte. Er spricht mir damit bis heute aus dem Herzen. Ein sinnentleertes Ritual darf die Erinnerung niemals werden. Sie muss aktiv sein und uns – eben im Wortsinne! – erinnern, dass und warum in der Vergangenheit geschehen konnte, was geschehen ist.
Nur so können wir erkennen, wie wir heute unserer Verantwortung gerecht werden können, zu verhindern, dass die Geschichte sich wiederholt.
Die Schreie der hilflosen Opfer hallen bis heute nach – umso mehr am 9. November. Wir müssen sie hören, immer und immer wieder. Wir dürfen nicht taub sein für sie – so, wie wir nicht blind sein dürfen für die neuen alten Gefahren in unserer Gesellschaft. Den Feinden jüdischen Lebens, den Feinden der Demokratie, den Feinden von allem, was unser Leben gut und lebenswert macht, müssen wir mit der Kraft des Gedenkens entgegentreten.
Wir wissen.
Wir erinnern.
Und: Wir werden nicht hilflos sein.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Dr. h.c. Charlotte Knobloch
Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern
Ehemals Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland Beauftragte für Holocaust-Gedenken des World Jewish Congress
Honestly Concerned e.V.
https://www.br.de/nachrichten/bayern/digitales-gedenken-an-reichspogromnacht-in-muenchen,SFa7eDx