Andere Sicht des Libanon

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Jerusalem, 11. Mai 2008 – „Den libanesischen Premierminister Fuad Siniora halte ich für einen der geschicktesten Politiker des Nahen Ostens. Ich bewundere ihn geradezu“, sagte Guy Bechor, einer der führenden israelischen Arabienforscher.
Zurecht habe Siniora die jüngste Krise im Libanon ausgesessen, denn Hisbollah-Chef Nasralla habe einen schweren Fehler begangen. Das habe Siniora schnell erkannt und deshalb mit Nichtstun genau richtig reagiert. Am Freitag sah es so aus, als würde im Libanon schon wieder der Bürgerkrieg ausbrechen, nachdem die Hisbollah den Westen von Beirut eingenommen und dabei auch in sunnitische und christliche Viertel eingedrungen sei. Nasrallah habe dadurch gleich zwei rote Linien überschritten, gemäß der ungeschriebenen innerlibanesischen Gesetze. Zum einen seien sich alle Libanesen einig, keinen neuen Bürgerkrieg zu wollen. Den hätten sie ab 1975 zur Genüge mit über hunderttausend Todesopfern durchgemacht.
Die andere „Rote Linie“ sei ein striktes Tabu, nicht in die ethnisch definierten Territorien anderer Gruppen einzudringen.
Das Gefühl, auch in den israelischen Medien am vergangenen Freitag, dass Beirut wieder einmal in Feuer aufgehen würde, sei eine „typisch westliche Denkweise“, behauptete Bechor. Er selber sei überhaupt nicht überrascht über die schnelle Beruhigung der Lage und dem Abzug der Hisbollah-Kämpfer gewesen. Denn während Premierminister Siniora wohlweißlich schwieg, habe Nasrallah innerhalb eines Tages seine eigenen Fehler eingesehen.
Die Hisbollah rechtfertigt ihr Festhalten an Raketen und Waffen und der Einrichtung eines eigenen, nicht-staatlichen Telekommunikationsnetzes mit der Notwendigkeit, dem wahren Feind, Israel, die Stirn zu bieten. Doch mit der gewalttätigen Übernahme von großen Teilen von Beirut habe die Hisbollah ihren eigenen Anspruch Lügen gestraft. „Die Hisbollah  bekämpft Libanons rechtmäßige Regierung und nicht Israel“, beschreibt Bechor das Gefühl im Libanon und auch Nasrallahs schnelle Einsicht.
Weil aber die Hisbollah letztlich die Macht im Libanon erlangen wolle, durchaus mit dem Segen des Iran, und die Syrer wieder ins Land holen wollen, könne es sich Nasrallah nicht erlauben, gegen heilige Regeln im Libanon zu verstoßen und so die Bevölkerung gegen sich aufzubringen.
Bechor kritisierte bei der Gelegenheit auch die „typische“ israelische Politik. „Wäre Siniora ein Israeli, hätte er doch sofort die Armee gerufen und sie beordert, die Hisbollah-Kämpfer umgehend mit Gewalt wieder aus Beirut zu vertreiben“, sagt Bechor und fügt hinzu: „Siniora hingegen ließ Nasrallah ins offene Messer laufen, das er sich selber gesetzt hatte. Auch ohne Widerstand der Armee war deshalb Nasrallah gezwungen, seine Leute schnell wieder abzuziehen und in Beirut wieder die Normalität einziehen zu lassen.“
Bechor sagte, dass Israel gut daran täte, sich im Libanon nicht einzumischen. Die Einnahme libanesischen Territoriums durch die israelische Armee werde von den Libanesen als genauso unerträglich betrachtet, wie das Vorrücken der Hisbollah in Beirut.
Westliche Beobachter im Libanon freilich sehen die Dinge etwas anders. Siniora sei „eingeknickt“ indem er alle Forderungen der Hisbollah erfüllt  habe. Die Hisbollah habe zudem die Milizen der Sunniten erniedrigt, indem sie ihnen bei dem Coup alle Waffen abgenommen habe. Nur wenn die Hisbollah und andere schiitische Gruppierungen volle Regierungsbeteiligung erhielten, könne die Krise entschärft werden. Die prowestlichen Kräfte rund um Siniora stünden vor einem Nichts, weil die Amerikaner und Europäer außer freundlichen Aufrufen zur Versöhnung nichts getan hätten, um die Regierung zu stützen.

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